Predigt zum Herrntag des hl. Gregorios Palamas (Hebr 1, 10 - 2, 3. Mk 2, 1-12) (31.03.2013)
Hebr. 7: 26 - 8: 2; Joh. 10: 9-16
Liebe Brüder und Schwestern,
jetzt liegt auch die zweite Etappe der großen Reise hinter uns und das ganz große Ziel ist wieder ein ganzes Stück näher gerückt. Am zweiten Sonntag der Großen Fastenzeit ehrt die Kirche das Gedächtnis des hl. Gregorios Palamas (1296/97-1359), der in jungen Jahren Jahre auf dem Heiligen Berg Athos lebte und von 1347 an Metroplit von Thessaloniki war. Zu Ehren dieses Tages wird in der Kirche neben dem üblichen Evangelium für einen Heiligen im Bischofsstand auch die Erzählung von der Heilung des Gelähmten von Kafarnaum vorgetragen – eine Begebenheit, die auf den ersten und zweiten Blick nichts mit dem hl. Gregorios Palamas und der Praxis des Hesychasmus oder der dogmatischen Lehre von den ungeschaffenen Energien Gottes zu tun zu haben scheint. Aber vielleicht ist dieser scheinbare logische Widerspruch auch Sinnbild für das gesamte, dem Menschen nur sehr begrenzt zugängliche Wirken Gottes?..
Der hl. Gregorios Palamas beschäftigte sich im Disput mit Barlaam von Kalabrien mit der Frage, ob man Gott empirisch wahrnehmen kann. Die Heilige Schrift ist da voller vermeintlicher Widersprüche: „Niemand hat Gott je gesehen“ (Joh. 1: 18) und „Weh mir, ich bin verloren, denn (…) meine Augen haben den König, den Herrn der Heere gesehen“ (Jes. 6: 5); weiter heißt es: „Du kannst Mein Angesicht nicht sehen; denn kein Mensch kann Mich sehen und am Leben bleiben“ (Ex. 33: 20) und dann wieder: „Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin doch mit dem Leben davongekommen“ (Gen. 32: 31). Das alles zeugt davon, dass Gottes Weisheit diejenige der Menschen um das Unendliche übersteigt. Aber nicht alles am unfassbaren Gott ist für den Menschen unbegreiflich, denn vierzig Tage vor der Kreuzigung des Herrn waren die drei Jünger „Augenzeugen der Macht und Größe“ des Herrn, Der „von Gott, dem Vater, Ehre und Herrlichkeit empfangen“ hat (2 Petr. 1: 16-17; vgl. Joh. 1: 14); und sie hörten mit Ihm „die Stimme der erhabenen Herrlichkeit, die zu Ihm sprach: Das ist Mein geliebter Sohn, an Dem Ich gefallen habe“ (2 Petr. 1: 17). Die Gottesschau (gr. theoria) ist demnach eine Erfahrung, die der heilige Gregorios als Hesychast auf dem Berg Athos durch „Gebet und Fasten“ (Mk. 9: 29) gemacht hatte und die er daraufhin vehement gegen die Angriffe seitens der Widersacher des Hesychasmus zu verteidigen begann. Er lehrte, dass Gottes ungeschaffenes Wesen (gr. ousia) zwar für den Menschen völlig unzugänglich ist, dass Gott Sich dafür in Seinen (ebenfalls ungeschaffennen) Energien den Menschen zu erkennen gibt (s. Mt. 5: 8) – sowohl auf „dem heiligen Berg“ Tabor (2 Petr. 1: 18), als auch auf dem Athos und an allen anderen Orten. Die Kirche bestätigte diese jahrhundertealte Lehre und Praxis auf zwei Konzilen im Jahre 1341 und erklärte sie auf weiteren zwei Konzilen 1347 für allgemein verbindlich. Damit wurde auch der Grundsatz der orthodoxen Theologie bekräftigt, dass nur als gesamtkirchliche Lehre gelten kann, was durch die Einmütigkeit der hll. Väter in besagter Frage (consensus patrum) bezeugt worden ist. Theologie beruht im orthodoxen Verständnis auf vom Heiligen Geist inspirierter asketischer Erfahrung – siehe den Prolog zum Johannesevangelium, - nicht auf angeeignetem Wissen oder auf logischen Schlussfolgerungen. Das Wirken des hl. Gregorios Palamas ist somit wiederum ein Anschauungsbeispiel für die gelebte Katholizität der Kirche auch nach der Epoche der sieben Ökumenischen Konzile.
Nun, was kann ich noch weiter über das ungeschaffene Licht vom Berg Tabor sagen?.. Über das Leben der Mönche habe ich, obwohl ich sechs Jahre meines Lebens hinter Klostermauern verbracht habe, nur theoretisches Wissen: dass sie beten und fasten, Gehorsam üben, nachts tausende von Prostrationen mit dem Jesus-Gebet vollziehen. Trotzdem bewahrheitet sich m.E. in der heutigen Praxis, dass Gott das Licht für die Engel ist, die Engel für die Mönche, und die Mönche für die Weltkinder. Unser Gottesdienst und auch ein Teil unseres Alltags (z.B. die Fastenregeln) werden ja vom Typikon bestimmt, das in Klöstern für Klöster verfasst worden ist. Und obwohl ich weit davon entfernt bin, den Mönchen in Spiritualität und Askese nachzueifern, weiß ich doch, welche unbeschreibliche Freude die Seele z.B. während der Großen Fastenzeit und vor allem in der Karwoche nach stundenlangen Gottesdiensten ergreift. Es ist die Freude, in Seiner schwersten Stunde mit dem Herrn sein zu dürfen. Der für einen in der Welt lebenden Menschen zumutbare Verzicht auf Ablenkungen und Vergnügungen, die für ihn mögliche Konzentration in Erwartung der Passion und der Auferstehung führen dazu, dass zumindest in den erhebendsten Momenten des Kirchenjahres die Außenwelt auch für ihn, ähnlich den drei Jüngern auf dem Berg Tabor, „nicht existiert“. Wahrscheinlich ist dieses Glück denen, die jeden Tag so leben, ständig vergönnt, was wiederum zu dem Schluss führt, dass die Besinnung auf den Herrn und Sein Erlösungswerk prinzipiell für jeden möglich ist. Die überirdische Freude, die man früher oder später dabei empfindet, ist quasi eine Zugabe, die einen dazu anspornt, sich nicht durch irdische Annehmlichkeiten ablenken und sogar notwendige Dinge für einige Zeit ruhen zu lassen. Insofern erkennen wir, dass das Mönchsleben, das ja im Grunde kein „abgehobenes“ Lebensmodell darstellt, sondern im Idealfall lediglich die volle und kompromisslose Befolgung der Gebote des Herrn bedingt, für uns von seinem Wesen und seiner Zielsetzung her ein leuchtendes Beispiel sein muss. Deshalb pilgern wir Weltkinder so gerne in die heiligen Klöster, um uns von diesem Geist ohne viel Worte (gr. hesychia = Ruhe, Stille) beseelen zu lassen. Wer den Berg Athos einmal besucht hat, der sieht, dass Mönche zwar sehr wohl „Krieger Christi“, aber keine Masochisten sind; sie haben „das Bessere gewählt“, das ihnen „nicht genommen werden“ soll (Lk. 10: 42).
Wir können aber ebenso „das Bessere“ wählen, denn auch wir sind seit unserer Taufe „Krieger Christi“. Nicht nur an die Mönche sind die Worte gerichtet: „Verschafft euch einen Schatz, der nicht abnimmt, droben im Himmel, wo kein Dieb ihn findet und keine Motte ihn frisst. Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz“ (vgl. Mt. 6: 21).
Der Unterschied zwischem einem Mönch und einem Weltkind, einem langjährigen Kirchgänger und einem Neophyten, einem Erwachsenen und einem Minderjährigen liegt also nicht in der Grundausrichtung, sondern in der Norm. So räumt Metropolit Anthony (Bloom) ein, dass von jedem nur das ihm individuell zumutbare Maß an äußerer Frömmigkeit erwartet werden kann – aber auch nicht weniger als das. Deshalb besteht die Funktion des Gemeindepriesters nicht in der Bevormundung oder Unterjochung seiner mit einem freien Willen ausgestatteten geistlichen Kinder, sondern in der liebevollen, auf gegenseitiger Achtung und Vertrauen basierenden konsultativen Unterweisung. Daraus folgt wieder einmal, dass es uns nicht um die externe Befolgung des Gesetzes gehen muss, sondern um das, „was am Herzen durch den Geist, nicht durch den Buchstaben geschieht“ (Röm. 2: 29).
Und so begreifen auch wir Nicht-Theologen, dass nicht streng festgelegte rituelle Ordnungen, dass keine erstarrten dogmatischen Formeln und auch keine penibel zu befolgende Etikette das Wesen unseres Glaubens ausmachen, sondern ein Leben nach dem Geist Christi. So definierte es auch unser großer Asket St. Seraphim von Sarov: „Das Ziel des geistlichen Lebens ist die Aneignung des Heiligen Geistes“. Wie das Lebenswerk des hl. Gregorios Palamas zeigt, muss dieses Leben nach dem Geist gewiss auch in Formulierungen und Reglementierungen gekleidet werden, denn nach den Worten von Vater Petr (Meshcherinov) kann man zwar sehr wohl nach außen hin Christ sein, ohne es nach innen zu sein, aber niemals nach innen hin ein christliches Leben führen, ohne dies irgendwie auch nach außen zum Ausdruck zu bringen. Äußere Vorgaben sind notwendig als Orientierungshilfe, als Richtschnur, aber ihre Befolgung ist niemals ein Ziel für sich. Der Inhalt zählt, nicht die Verpackung. Wenn wir dieses Bewusstsein nicht haben, können wir unseren Glauben zwar emotional leben, ihn als „Lebenshilfe“ in Anspruch nehmen, doch wird dabei die Gemeinschaft mit Gott bestenfalls theoretischer oder suggestiver Natur sein.
Wir lesen heute von der Heilung des Gelähmten in Kafarnaum. Wir erinnern uns: Christus, der Herr, heilt zuerst seine Seele: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“ (Mk. 2: 5); danach heilt Er auch seinen Körper (s. 2: 12). Letzteres geschieht, damit wir alle erkennen mögen, „dass der Menschensohn die Vollmacht hat, hier auf der Erde Sünden zu vergeben“ (2: 10). Das führt uns, beim dritten Hinsehen, auf den Weg der Erkenntnis des Zusammenhangs dieser wunderbaren Heilung mit dem Ziel des Fastens. Unser Ziel war doch, von den Sünden gereinigt zu werden.
Vor vielen Jahren bat mich ein russisches Gemeindeglied, seinen deutschen Freund aufzusuchen. Dieser saß nach einem Autounfall mit einer Querschnittslähmung im Rollstuhl, zudem hatte ihn seine Frau verlassen. Wahrscheinlich hatte ihm der russsische Freund (der damals selbst erst vor kurzem den Weg in die Kirche gefunden hatte) erzählt, er müsse nur getauft werden, um wieder gesund zu werden. In dem ausführlichen Gespräch mit dem Gelähmten versuchte ich zu erklären, dass die Taufe keine magische Handlung ist, dass ihr ein lebendiger Glaube und ein aufrichtiges Sündenbekenntnis vorausgehen müssen. Am Ende des Gesprächs sah ich, bei aller menschlicher Sympathie und bei allem Mitgefühl keine Veranlassung, diesen Mann zu taufen. Doch nach wenigen Wochen erschien der Mann im Rollstuhl zum alljährlichen Mysterium der Krankensalbung in der Karwoche – sein russischer Freund hatte ihn mit dem PKW nach Weißrussland gefahren, wo er promt getauft worden war. Nach weiteren Wochen ohne ein Wunder gab der Mann zu verstehen, er brauche keine Kirche mehr, da sie ihm in der Not nicht geholfen habe...
Beim Gelähmten von Kafarnaum war der Glaube (s. Mk. 2: 5) ausschlaggebend für dessen Sündenerlass und anschließende körperliche Heilung. Die Lehre aus dieser Begebenheit ist eindeutig: zuerst muss es uns um das Seelenheil gehen. Wird diese Wertepyramide auf den Kopf gestellt, sind die Folgen tragisch.
Schuld daran sein kann auch die Mystifizierung des Glaubens bei uns heutzutage. Gut gemeinte Ratschläge von Gläubigen bewegen kirchenfremde Menschen, sich taufen zu lassen, heilige Stätten aufzusuchen, sich mit geweihtem Öl zu salben, vor wundertätigen Ikonen Kerzen anzuzünden oder irgendwelche Starzen aufzusuchen – all das in Erwartung von Wundern, die jedoch, bitteschön, geschehen sollen, noch bevor der Mensch Christus in seinem Herzen begegnet ist. Dieses Wunder aber darf jeder erwarten, der es anstrebt!
Insofern erinnert das heutige Erscheinungsbild unserer Kirche, wie sie sich in Person zahlreicher Laien, Priester und sogar Mönchen offenbart, an einen Menschen, der auf einer riesigen, prall gefüllten aber verriegelten Schatztruhe sitzt, sich für den reichsten Mann der Welt hält, aber leider nicht weiß, wohin er den Schlüssel zum Öffnen des Schlosses verlegt hat.
Es kommt – ich wiederhole mich gerne – bei all unseren Bestrebungen auf unsere Gemeinschaft mit Christus an, Der unsere „Reinigung von den Sünden bewirkt (...) und Sich dann zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt“ hat (Hebr. 1: 3). ER ist das Ziel! Mit Christus wollen wir die ganze Fastenzeit, die ganze Karwoche und, selbstverständlich, am Tag der Auferstehung sein. Und vielleicht werden dann auch wir, überwältigt von Seiner Herrlichkeit, mit dem Apostel Petrus sagen: „Herr, es ist gut, dass wir hier sind“ (Mt. 17: 4; Mk. 9: 5; Lk. 9: 33). Amen.