Predigt zum 22. Herrentag nach Pfingsten (Gal. 2:16-20; Lk. 8:5-15) (01.11.2020)
Liebe Brüder und Schwestern,
wieder einmal werden wir anhand des Gleichnisses vom Sämann mit der knallharten geistlichen Realität konfrontiert. Ich war geneigt zu sagen: „...mit der Realität unserer Zeit“; doch ist mir natürlich bewusst, dass die Worte des Herrn vor zweitausend Jahren gesprochen worden sind und selbstverständlich auf jede Zeit und Epoche anwendbar sind. Es ist gewiss einleuchtend, dass mir zuvörderst die Zeit geläufig ist, in der ich lebe. Andere Zeiten habe ich ja nicht erlebt, „kenne“ sie – wenn, dann nur sehr vage und höchst unvollständig vom Hörensagen, aus Schriften, mündlichen Erzählungen, filmischen Dokumentationen oder Hörsendungen. Ein beträchtlicher Teil meiner Vorstellung von vergangenen Epochen entstammt wohl auch meiner eigenen Phantasie oder einem verklärten Bild, das ich mir in meiner Gedankenwelt von diesen Zeiten gemacht habe. So hat es in der historischen Realität niemals ein „Heiliges Russland“ gegeben wie es auch nicht wirklich ein „christliches Abendland“ gegeben hat. Im Vergleich zu unserer Zeit galten zwar früher objektiv andere ethische Normen und Konventionen (nämlich christliche), ebenso basierte die weltliche Gesetzgebung und die vorgegebene Gesellschaftsordnung auf christlichen Grundlagen, aber an der Umsetzung haperte es immer wieder beträchtlich. Äußerlich mag vieles damals den Anschein erweckt haben, dass man in einer christlichen Gesellschaft lebte, aber geistlich blieb vieles nur Stückwerk. Und so haben die Worte der heutigen Epistellesung nichts an Aktualität eingebüßt: „Durch Werke des Gesetzes wird niemand gerecht“ (Gal. 2:16b) – also erlangten weder die Judenchristen der ersten Generation durch die Befolgung des Mosaischen Gesetzes das Seelenheil, noch erlangen es die heutigen Christen, wenn sie nur äußeren Vorschriften der neutestamentlichen Verkündigung oder der kirchlichen Regularien (z.B. Fastenregeln) Folge leisten. Deshalb auch die Betonung des guten und aufrichtigen Herzens als Zielvorgabe des heutigen Gleichnisses als wirksamer Gegensatz zur rein äußerlichen Gesetzestreue (s. Lk. 8:15; vgl. Hebr. 13:9).
Neulich taufte ich ein Kind. Danach gingen wir mit der Taufgesellschaft in geselliger Runde essen. Einer der wohlgemeinten Trinksprüche auf den neuen Christen, der in den nächsten Jahren wohl nur zu äußerst seltenen Anlässen wieder eine Kirche von innen sehen wird, lautete dahingehend, dass der Neugetaufte ein guter Christ werden möge, der die zehn Gebote einhält. Ohne es zu wissen, bestätigte der das Glas Erhebende eindrucksvoll die heute ebenfalls vernommen Worte der Schrift: „Wenn ich (...) das, was ich niedergerissen habe, wieder aufbaue, dann stelle ich mich selbst als Übertreter hin“ (Gal. 2:18). Es ist ein Rückfall in alttestamentlichen Gesetzesgehorsam, der die Gnade Christi völlig außer Acht lässt. Dabei handelt es sich allerdings um die auf ein absolutes Minimum abgespeckte Light-Variante der doch sehr schweren Last der Gesetzestreue: „nicht stehlen“ und „nicht töten“ – den Rest nimmt man mangels vorhandener elementarer Kenntnisse dann nicht so genau. In die alte Sklaverei des Gesetzes mit seinen lästigen Verboten und Geboten moderner Lesart will man sich dann doch nicht wieder begeben (vgl. Gal. 4:9). Deshalb Freiheit, aber um der Freiheit selbst willen, – nicht etwa, um sich freiwillig mit Christus kreuzigen zu lassen (s. Gal. 5:24), damit „nicht mehr ich lebe, sondern Christus“ in mir lebt (s. Gal. 2:19-20; vgl. 4:19). Und dieser Widerwille führt dazu, dass man die Gnade Gottes verachtet (s. 2:21).
Weiter zu Ihrer Belustigung: einen anderen Kindsvater fragte ich (obwohl ich die richtige Antwort schon kannte), ob denn der Taufpate in spe das Glaubensbekenntnis auswendig könne. Nach einer kurzen Rückfrage, was denn das Glaubensbekenntnis überhaupt sei, sagte er: „Ja, im Herzen kennen wir es und glauben auch daran“. Kommentar überflüssig.
Keiner will seine persönliche Freiheit aufgeben, aber alle sträuben sich gegen Verantwortung! Wie kann ich es also dem Herrn recht machen? – Wohl nur dadurch, dass ich dem Gesetz durch das Gesetz sterbe, „damit ich für Gott lebe“ (Gal. 2:19). Der uns bekannte äthiopische Hofbeamte aus der Apostelgeschichte, zum Beispiel, brachte diese Voraussetzung schon nach der ersten Unterweisung durch Philippus mit: Glauben aus ganzem Herzen (s. Apg. 8:37)! So wird er, nachdem er die Verkündigung reinen Herzens empfangen hat, auch an derselben festgehalten haben und Gott durch Ausdauer Frucht gebracht haben (s. Lk. 8:15). Davon spricht der Apostel, wenn er sagt, dass „der Mensch nicht durch Werke des Gesetzes gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus“ (Gal. 2:16). Alles andere ist ein Glaube, der – siehe unser Gleichnis vom Sämann – keinerlei Frucht bringt. Und was ist ein fruchtloses Christentum wert?! Es ist wie der Feigenbaum am Wegesrand, den der Herr verflucht hat (s. Mt. 21:19; Mk. 11:12-14;20-21). Gott ist langmütig und erwartet noch unsere Umkehr. Im Falle der Leute von Jerusalem war diese Langmut vergeblich (s. Lk. 13:5). Und wenn Er auf Dauer keine Anzeichen davon in unseren Herzen erkennen kann, wird Er verfügen, dass der Feigenbaum umgehauen wird, damit er dem Boden nicht weiter seine Kraft nimmt (s. Lk. 13:6-9). Wir werden dann nicht sagen können, wir hätten davon nichts gewusst. „Der Knecht, der den Willen seines Herrn kennt, sich aber nicht darum kümmert und nicht danach handelt, der wird viele Schläge bekommen. Wer aber, ohne den Willen des Herrn zu kennen, etwas tut, das Schläge verdient, der wird wenig Schläge bekommen“ (Lk. 12:47). Die heutigen „Christen“ scheinen sich regelrecht davor „schützen“ zu wollen, den Willen ihres Herrn zu kennen, um möglichst straffrei davonzukommen. Der Herr wird Sich aber nicht lumpen lassen. Amen.
Details Eintrag
Jahr:
2020
Orignalsprache:
Deutsch