Predigt zum 4. Herrentag nach Pfingsten (Röm. 6:18-23; Mt. 8:5-13) (14.07.2019)
Liebe Brüder und Schwestern,
die Begegnung des Herrn mit dem Hauptmann von Kafarnaum ist ein Sinnbild für die Liebe Gottes, die alle Schranken überwinden kann: ethnische, soziale, politische und sogar religiöse. Im Grunde stehen nämlich beide – Jesus aus Nazareth und der Hauptmann – auf völlig unterschiedlichen Seiten, denn größer könnten die Gegensätze kaum sein: Hier ein Jude, da ein Römer; hier ein Friedensstifter, da ein Kriegsknecht; hier ein Angehöriger des geknechteten Volkes, da ein ein Repräsentant der Okkupanten; hier ein Prediger von Gottes Wort, da ein Heide. Und doch ist diese Begegnung eine der schillerndsten in der gesamten neutestamentlichen Geschichte. Welch ein Zuvorkommen, welch eine Rücksichtnahme, welche ein Wohlwollen und welch ein Respekt auf beiden Seiten! - so würde ich mich wohl ausdrücken, wenn ich damals zufällig auf den Straßen Kafarnaums vorbeigekommen und Zeuge dieser Begegnung gewesen wäre. Und, in der Tat, spiegelt dieses Aufeinandertreffen symbolisch die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen wider.
Der Allmächtige offenbart Seine Größe nicht in dieser Welt, nimmt vielmehr freiwillig die Schwäche der Menschen auf sich. Der Mensch kann diese freiwillige „Ohnmacht“ Gottes ignorieren, sogar kurzfristig für seine schnöden Zwecke ausnutzen - oder aber sich vor ihr demütig und ehrfurchtsvoll verneigen, So tut es der Hauptmann. Er ist zwar aus weltlicher Sicht der „mächtigere“ von beiden, aber er bittet den einfachen Wanderprediger demütig um Hilfe – nicht für sich, sondern für einen Minderbemittelten. Es ist sinnbildlich die menschliche „Antwort“ auf die Selbsterniedrigung (griech. kenosis) Gottes: Er erbarmt Sich meiner Nichtigkeit, so bin auch ich demütig vor Ihm und nehme mich nun meinerseits eines Schwächeren an! Beide überwinden die Trennwand: Christus hält nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern erniedrigt Sich bis ins Unendliche (s. Phil. 2:6-8), der Mensch ergreift die ausgestreckte Hand Gottes und handelt in demselben Geiste der Demut… Welch wunderbares Bild!
Je höher die Stellung, desto glänzender ist die darin gelebte Demut…
Gott setzt Seine Gnade in dieser Welt aber gezielt ein. Wie würde denn ein Bettler reagieren, wenn ihn der König unvermittelt neben sich auf den Thron setzen würde?... Wenn dieser Bettler ein reines Herz hat, würde er wahrscheinlich zitternd und gesenkten Hauptes auf dem Thron Platz nehmen. Und wenn er dann nach einiger Zeit realisiert hat, dass das kein Traum ist, würde er sich bei seinem Wohltäter immer noch ehrfurchtsvoll, aber bald schon mit einiger Zuversicht für die Belange der anderen armen Schlucker einsetzen. Er würde auch dann noch demütig bleiben. Ein verdorbener Mensch hingegen würde sich sehr schnell an seine neue Stellung „gewöhnt“ und nichts weiter im Sinne haben, als persönlich Vorteil aus der ihm erwiesenen königlichen Gunst zu ziehen und vielleicht noch ränkesüchtig weiter an der Ausweitung seiner Machtbasis zu arbeiten (bis hin zum Sturz seines Gönners). Also können wir daraus die Erkenntnis ableiten, dass man sich Glück erst verdienen muss (s. Spr. 22:4). Unverdient erlangter Reichtum und Macht bewirken jedoch nichts Gutes.
Aber zurück nach Kafarnaum. Wir sprachen davon, dass die Liebe Gottes Mauern, vor allem in den Köpfen und Herzen, zu überwinden imstande ist. Sinnbild hierfür ist der römische Hauptmann. Als ich Anfang-Mitte der 1990-er Jahre am Priesterseminar in Weißrussland unterrichtete, gab es dort kurz nach dem Fall des Kommunismus neben den damals üblichen Studenten aus Priesterfamilien nun auch junge Männer mit nichtreligiösem Background. Natürlich waren die von Kindheit an im Glauben erzogenen Seminaristen viel besser mit der kirchlichen Etikette vertraut, doch dafür leuchteten die Augen derjenigen, die den Weg zu Christus selbständig gefunden hatten, heller. Und so ist es in den vier Evangelien: Für ihren Glauben besonders gelobt werden der besagte römische Zenturio (s. Mt. 8:10; Lk. 7:9), eine kanaanäische Frau (s. Mt. 15:28, vgl. Mk. 7:29) und ein Samariter (s. Lk. 17:19); für ihren Unglauben gescholten werden dagegen vor allem diejenigen, die drei Jahrzehnte lang Tür an Tür mit Gottes Sohn lebten (s. Lk. 4:24; Joh. 4:44). Bemerkenswert ist, dass fremde Völker die Verheißungen Gottes empfangen sollen, während Strafe nur den formal Rechtgläubigen angedroht wird (s. Mt. 8:11-12). Gott kennt die Herzen aller Menschen, Er gab auch den Heiden den Heiligen Geist, indem Er ihre Herzen durch den Glauben gereinigt hat (s. Apg. 15:8-9). Er wird Sich von allen finden lassen, die Ihn suchen (s. Jer. 29:13-14), und sogar von denen, die Ihn nicht suchen (s. Jes. 65:1; vgl. Röm. 10:20). Das Wunderbare ist, dass wir alle in Gottes Heilsplan mitwirken können. Gott kann alles auch ohne uns, Er will es aber mit uns und durch uns. Ich kann mir nichts schöneres vorstellen, als diesem Zweck durch mein Lebenswerk zuträglich gewesen zu sein.
Das weitere Schicksal des römischen Hauptmanns ist nicht bekannt. Ich kann wohl nur erahnen, dass es dem Werdegang des Kornelius (s. Apg. 10) oder des Longinus (s. Mt. 27:54; Mk. 15:39; Lk. 23:47-48) ähnlich gewesen sein muss (vor allem aufgrund von Lk. 7:3-5). Insofern können wir beruhigt über das Los unserer nichtgläubigen bzw. nicht getauften Angehörigen und Freunde sein. Sie sind von Gott nicht vergessen, sondern sind ebenfalls Seine geliebten Kinder. Wäre die Taufe das einzig bestimmende Kriterium, bedürfte es des Gerichtes nicht. Schließlich können auch wir uns unserer Errettung keineswegs sicher sein (s. Mt. 7:21; Jak. 1:22; 1 Joh. 2:17). Das Schicksal der anderen bleibt uns zwar jetzt noch verborgen, aber die Hoffnung lebt, dass auch sie „an jenem Tag, an dem Gott (…) das, was im Menschen verborgen ist, durch Jesus Christus richten wird“ (Röm. 2:16), mit uns Gnade finden können. Amen.