Das Leben und die Tragödie von Alexandra Feodorovna, Zarin von Rußland”
Bote 1998-3
Baronin Sophie Buxhoevenden
“Das Leben und die Tragödie von Alexandra Feodorovna,
Zarin von Rußland”, Kapitel 30: Tobolsk, August 1917 bis April 1918
Die Probleme in Zarskoe Selo vor der Abfahrt zeigten, wie unwillig die Extremisten waren, die kaiserliche Familie aus ihren Klauen zu entlassen und wie wenig Autorität die Regierung tatsächlich besaß. Der von der Regierung als Exil bestimmte Ort war Tobolsk, eine ferne Stadt in dem verlassensten Teil Sibiriens, wo die Familie wohlbehalten am 19. August eintraf. In Tobolsk war der Reliquienschrein des Hl. Ioann, zu der die Zarin bereits 1916 an ihrer Stelle Fräulein Vyrobova auf Pilgerfahrt geschickt hatte, weshalb sie diesen Zufall nun als ein gutes Omen sah. Die Regierung hatte während der langen Fahrt für das leibliche Wohl der Reisenden Vorsorge getroffen. Sie bekamen einen Sonderzug, der aus Erste-Klasse-Schlafwagen bestand, wozu ein Restaurantwagen hinzukam. Bewaffnete Soldaten fuhren mit, aber diese hielten sich am Ende jedes Eisenbahnwagons und nicht drinnen auf. Ein Duma Abgeordneter, Ver¡zinin, war zu ihrer Begleitung deputiert worden, außerdem ein Ingenieur namens Makarov, der alle Vorbereitungen für die Fahrt getroffen hatte, sowie zwei Mitglieder des Sowjet. Um keinen Verdacht zu erregen und womögliche Verzögerungen zu verhindern, hieß es, der Zug würde eine japanische Rotkreuz-Mission durch Sibirien fahren. Es gab jedoch ein paar Stationen unterwegs, und wenn immer der Zug durch einen größeren Bahnhof fuhr, wurden alle Jalousien heruntergezogen. Der Zug wurde jeden Tag für eine halbe Stunde angehalten, damit der Zar und die Kinder sich etwas ergehen konnten. Die Abgeordneten schärften ihm ein, sich von der Lokomotive fernzuhalten, damit der Lokführer ihn nicht gar erkenne.
Die Großfürstinnen zeigten mit dem frischen Geist ihrer Jugend bald Interesse für ihre neue Umgebung, nachdem sie eine gewisse Wehmut, Zarskoe verlassen zu müssen, überwunden hatten. Die Zarin lag den ganzen Tag in ihrem Coupé, völlig erschöpft an Körper und Seele. Sie war schrecklich enttäuscht, daß sie nicht nach Livadia gehen durfte. Dies war nun tatsächlich das Exil, und sie fühlte, daß Sibirien zur besonderen Betonung dieses Umstandes gewählt wurde. Etwas Trost gab ihr, daß die Abgeordneten höflich mit dem Kaiser umgingen. Die paar Soldaten im Zug waren eine große Verbesserung im Vergleich zu der Horde von Zarskoe, denn Oberst Kobylinskij hatte behutsam die vernünftigsten Leute aus dem Schützenregiment zur Zusammenstellung der Schutzgarde ausgewählt. Die Männer gingen recht freundlich mit den Kindern um, und bei einer Station pflückten sie sogar einige Kornblumen und gaben sie der Zarin, die aus dem Fenster herauslehnte. In Tjumen wurde die ganze Partie auf den Dampfer Rus verladen, da es keine Eisenbahnlinie nach Tobolsk gab. Es hieß, daß die Schiffahrtsgesellschaft beabsichtigte, ihr größtes und modernstes Schiff dem Kaiser zur Verfügung zu stellen, aber der Fluß Tobol war zu dieser Jahreszeit zu seicht, und so mußte das kleinere Schiff Rus eingesetzt werden. Es war recht bequem und die kaiserliche Familie war von dieser Etappe der Fahrt sehr angetan. Sie wähnten sich frei zu sein, und die Landschaft erinnerte sie an ihre Fahrt auf der Wolga anläßlich der Romanov Jubiläen. Das umliegende Land war sehr dünn bevölkert, so daß sie während ihrer 36-stündigen Fahrt nur an wenigen Dörfern vorbeikamen. Eines dieser Dörfer war Pokrovskoe, der Geburtsort Rasputins. Die Zarin konnte nicht umhin, sich an seine Weissagung zu erinnern, daß sie eines Tages frei- oder unfreiwillig an seinem Haus vorbeikommen würden. Die Leute der Gegend hielten sich vom Flußufer fern. Sie standen der kaiserlichen Familie zwar nicht feindlich gegenüber, aber selbst wenn sie wußten, wer die Reisenden in der Rus waren, fürchteten sie sich, durch eine Sympathiebekundung für derartige politische Gefangene in Schwierigkeiten zu geraten. Der erste Eindruck von Tobolsk vom Dampfer aus war ein angenehmer. Die Stadt war malerisch, größtenteils an den steilen Böschungen des Flusses Tobol gelegen, wo dieser in den mächtigen Irty¡s einmündet. Die Strahlen der untergehenden Sonne vergoldeten die Kirchenkuppeln, und die Glocken, die zum Abendgottesdienst läuteten, erinnerten die Reisenden an das Glockengeläute bei den offiziellen Besuchen in glücklicheren Zeiten. Alles schaute friedlich und anmutig aus. Bald jedoch merkten sie, daß es nur ein äußerer Eindruck war. Rein gar nichts war in dem Haus, in dem sie nun wohnen sollten, hergerichtet worden. Der Umstand, daß für die Abreise aus Zarskoe Selo keine richtige Vorsorge getroffen wurde, hatte bereits gezeigt, daß der ehemalige Imperator sogar jenen ziemlich egal war, sie nicht ausgesprochen aggressiv gegen ihn gesinnt waren. Fürst Dolgorukov und General Tati¡s¡cev, die das Haus mit Oberst Kobylinskij in Augenschein nahmen, erklärten es in seinem gegenwärtigen Zustand für unbewohnbar. Es hatte ursprünglich als Gouverneur-Residenz gedient, aber war seitdem als Kaserne benutzt worden und unbeschreiblich schmutzig.
(Fürst V.A. Dolgorukov war der Stiefsohn von Graf Benckendorf, d.h. der Sohn aus Gräfin Benckendorfs erster Ehe. Er wurde 1914 zum zweiten Hofmarschall ernannt. Fürst Dolgorukov blieb mit unbeirrbarer Treue die ganze Zeit der Gefangenschaft in Zarskoe bei seinem Herrn, er begleitete die kaiserliche Familie nach Tobolsk und fuhr schließlich mit dem Zar und der Zarin nach Jekaterinburg. Dort durfte er jedoch nicht in dem Ipatiev Haus wohnen, sondern wurde ins Gefängnis geworfen, wo er angeblich im Juli 1918 erschossen wurde.)
(I.L.Tati¡s¡cev war vormals einer der General-Adjutanten des Zaren und vor dem Krieg bei der Russischen Botschaft in Berlin. Der Zar hatte ihn anstelle von Graf Benckendorf als Begleiter ausgewählt, als bekannt wurde, daß dessen Gesundheitszustand die Reise nach Tobolsk nicht erlauben würde, und General Tati¡s¡cev war sofort einverstanden, die kaiserliche Familie in ihre Gefangenschaft zu begleiten. Er blieb die ganze Zeit in Tobolsk und fuhr mit den Zarenkindern nach Jekaterinburg. Bei der Ankunft dort wurde er von ihnen getrennt und ins Gefängnis geworfen, wo er wahrscheinlich im Juni 1918 von den Bolschewiken ermordet wurde.)
Erzbischof Hermogenes, der wegen seiner Ablehnung Rasputins bei Hof in Ungnade gefallen war, wurde von der Provisorischen Regierung in die Eparchie von Tobolsk versetzt. Nun bot er der kaiserlichen Familie seine eigene Residenz an. Dieses Haus bot den Vorteil, eine Privatkapelle und einen Garten zu besitzen, aber die Zimmer, die eigentlich nur aneinandergereihte Säle darstellten, waren höchst unbequem, weshalb das Angebot freundlich abgelehnt werden mußte. Schließlich wurde beschlossen, daß die Gouverneursresidenz angestrichen und gesäubert werden sollte, währenddessen die kaiserliche Familie an Bord des Dampfers zu bleiben hatte. Das behagte ihnen sehr. Sie durften kleine Ausflüge flußaufwärts unternehmen, zu Spaziergängen ans Ufer gehen, wobei die Wache ihnen in einem angemessenen Abstand folgte. Das gab ihnen Anlaß zur Hoffnung, daß die Gefangenschaft in Tobolsk sich milder gestalten würde, besonders da die Kammerherren frei in der Stadt herumlaufen durften, während sie für die Möblierung des Hauses sorgten. Alles notwendige Mobilar wurde von Privatiers in der Stadt gekauft, und das Haus stand am 26. August bereit. Die kaiserliche Familie zog noch am selben Tag ein, wobei der Haushalt in einem Haus gegenüber untergebracht wurde, das einem Kaufmann namens Kornilov gehörte. Der Zar und die Zarin besichtigten die Quartiere ihres Gefolges am Tag ihrer Ankunft. Das war das einzige Mal, daß sie ihr Haus verlassen durften. Vor der Abreise aus Zarskoe gab es vage Andeutungen, daß die Großfürstinnen etwas mehr Bewegungsfreiheit erhalten würden. Der Kommandant hatte mehrere Male erklärt, daß sie eigentlich nicht unter Arrest standen, sondern nur freiwillig ihre Eltern begleitet hätten, ebenso wie die Angehörigen des Haushaltes. Kobylinskij hatte sogar gehofft, daß der Zar zuweilen auf Jagd gehen könne, nachdem er sich in Tobolsk niedergelassen hatte. Die tatsächlichen Umstände stellten sich aber als ganz anders heraus. Den kaiserlichen Gefangenen wurde nicht erlaubt, das Haus zu verlassen, außer gelegentlich an Sonntagen oder großen Feiertagen zum Kirchgang, und dann wurden sie von einer starken, bewaffneten Eskorte begleitet. Die ihnen angetane Behandlung wurde im Laufe der Zeit immer unangenehmer.
Das Haus war, nachdem es endlich fertig war, recht bequem. Einige private Besitzstücke wie Teppiche, Lieblingsgemälde etc. waren auf Order von Makarov aus Zarskoe Selo nachgeschickt worden. Die Majestäten hatten ein Schlafzimmer, der Zar ein Ankleidezimmer, die vier Großfürstinnen teilten sich ein Schlafzimmer, und der Zarevi¡c hatte sein eigenes mit seinem Matrosendiener nebenan. Es gab ein Wohnzimmer für die Zarin und ein Arbeitszimmer für den Zar im ersten Stock, abgesehen von einem Saal, wo später eine Feldkirche errichtet wurde. Das Eßzimmer war im Parterre. M. Gilliard und einige der persönlichen Bediensteten wohnten ebenfalls in dem Gouverneurshaus, der Rest der Dienerschaft war mit dem Haushalt im gegenüberliegenden Gebäude untergebracht. Gräfin Hendrikov, Fräulein Schneider und der Kammerherr nahmen ihre Mahlzeiten zusammen mit der kaiserlichen Familie ein. Sie durften die Straße unbewacht überqueren, da der Abstand sehr gering war.
(Jene, die mit der kaiserlichen Familie in den ersten fünf Monaten der Gefangenschaft blieben, waren Graf Benckendorf, Frau E.A. Nari¡skin, bis 27. Mai 1917, als sie erkrankte und abfuhr, Gräfin A.W. Hendrikov, Frl. E.A. Schneider, M. Gilliard, die Doktoren Botkin und Derevenko, sowie ich.)
(Frl. Schneider, eine baltische Russin, wurde zur Vorleserin der Zarin ernannt und 1905 mit dem Titel “Hoflektorin” versehen. Sie unterrichtete die Zarin zuerst in Russisch, dann las sie ihr vor, und in den letzten Jahren fungierte sie auch als eine Art Gouvernante für die zwei jüngeren Großfürstinnen. Sie war bis zuletzt mit ihren Majestäten und folgte ihnen in der Gefangenschaft in Sibirien nach Jekaterinburg. Dort wurde sie von der kaiserlichen Familie getrennt und ins Gefängnis geworfen. Dann wurde sie mit der Kammerfrau der Kaiserin, Gräfin Anastasia Hendrikov, in das Gefängnis von Perm verlegt, wo beide am 22. August 1918 von den Bolschewiken ermordert wurden. Damals war Frl. Schneider über 60 jahre alt.)
Einige Zeit lang durfte die Gefolgschaft sogar alleine in die Stadt bummeln gehen, aber dieses Privileg wurde nach und nach reduziert. Zuerst durften sie nur an gewissen Tagen ausgehen. Dann mußten sie immer von einem bewaffneten Soldaten begleitet werden, und nach Neujahr wurden sogar diese beschränkten Ausgänge nur noch selten gestattet. Die kaiserliche Familie schnappte soviel Luft wie möglich in dem Küchengarten, der dem Gouverneurshaus angegliedert war. Das war nur ein winziger Freiraum mit ein paar Kohlköpfen, ein Straßenstück war noch hinzugefügt worden, das ganze hastig von hohen Holzlatten zugerammt. Dieses umzäunte Stückchen Erde verwandelte sich im Herbst zu einem Sumpf, da es nicht befestigt war. Es gab dort keinen einzigen Baum oder Busch. Der Winter beginnt in diesen nördlichen Regionen früh, der erste Schnee fällt gewöhnlich im September, aber 1917 war ein ausgesprochen mildes Jahr, und bis Anfang November gab es keinen richtigen Schnee. Aber das Klima in Tobolsk ist rauh, und im Januar fiel die Temperatur auf minus 50° C. Es war jedoch ziemlich windstill, was die Kälte erträglich machte, und die Sonne schien täglich einige Stunden lang prächtig.
Der große Nachteil des Hauses war seine immense Frostigkeit. Als der Gouverneur dort wohnte, gab es ein spezielles Heizungsystem, das wahrscheinlich ungeachtet der hohen Kosten betrieben wurde, aber jetzt gab es kaum Brennstoff, und die ganze Familie litt schrecklich unter der Kälte. Die Zimmertemperatur betrug oft nur 7° C. Sogar die Zarin fühlte sich halberfroren, und ihre Finger waren so steif vor Frostbeulen, daß sie ihre Ringe nicht tragen und kaum ihre Stricknadeln bewegen konnte. Die Großfürstinnen, denen immer kalt war, trugen alle warmen Kleidungsstücke, die sie nur finden konnten.
Tobolsk war eine Kleinstadt von etwa 30.000 Einwohnern und lag ziemlich außer der Welt. Nur in den vier Sommermonaten war der Fluß schiffbar, und für den Rest des Jahres mußte der ganze Verkehr mit dem 287 Werst entfernten Tjumen durch Pferde bewältigt werden. Die Gefangenen hätten leicht fliehen können. In einem solchen Fall hätte nur per Telegraph Alarm gegeben werden können, und da wären sie schon 20 Meilen weit weg gewesen, zudem gab es auf der langen Landstrecke von Tjumen nach Tobolsk kaum Dörfer. Jede derartige Idee lag dem Zarenpaar jedoch völlig fern. Sie waren froh, von der Hektik der Politik weit weg zu sein und hofften, daß sie in dem trostlosen Ort vergessen würden und in Rußland bleiben dürften, was ihr eigener Wunsch bis zum Schluß war. Zu Sylvester 1917 schrieb mir die Zarin: “Gott-sei-Dank sind wir noch alle zusammen und in Rußland.”
Die Bewohner des Städtchens waren ihnen nicht feindlich gesinnt, denn es lag zu weit weg, als daß die Propaganda durchdringen konnte, und hier herrschten noch patriarchalische Sitten. Der Kaiser war noch der Zar von Tobolsk, und viele Leute entblösten ihr Haupt, wenn sie am Gouverneurshaus vorbeikamen. Wenn die kaiserliche Familie zur Kirche geführt wurde, blieb die Menge in einiger Entfernung stehen, aber es gab viele, die sich bekreuzigten, wenn der Kaiser vorbeiging. Viele der Kaufleute sandten auch Geschenke in Form von besonderen Speisen, manche offen, andere anonym. Diese waren sehr willkommen, denn in dem rauhen Klima waren Kohl und Karotten die einzigen Gemüsearten, und Kartoffeln mußten von Tjumen gebracht werden. Fisch gab es reichlich und Wildbret in Hülle und Fülle.
In Tobolsk gab es keine Garnison, und die 350 Mann starke Garde unter Oberst Kobylinskij aus dem Schützenregiment von den Zarskoe Selo war die einzige Autorität. Zuerst schienen sie zu einem etwas milderen Regime geneigt, und Oberst Kobylinskij und seine Offiziere hatten ihre Leute unter Kontrolle. Aber unter dem Einfluß der nicht enden wollenden Propaganda schwächte sich seine Autorität allmählich. Die Provisorische Regierung ernannte einen bürgerlichen Kommissar in der Person von Vassilij Semenovi¡c Pankratov, einen ehemaligen politischen Gefangenen, der die besten Jahre seines Lebens in Sibirien verbracht hatte. Dieser war zwar kein schlechter Mensch, obwohl er in seiner Jugend wegen Totschlag eingesperrt wurde. Aber er war von den extremsten Ideen des Sozialismus vollgestopft und ein richtiger Fanatiker. Er und sein Assistent, ein grober, ungehobelter Mann namens Nikolskij, bestanden darauf, den Soldaten sozialistische Vorträge zu halten. Zuerst beeindruckten diese sie kaum, aber allmählich begannen sie aus Langeweile, denn sie hatten nicht viel zu tun, ihre “Rechte zu diskutieren”. Die Befehle des Kommandeurs wurden mißachtet, und der kleine Sowjet machte sich wichtig. Pankratov selbst hatte immer Angst vor den Soldaten. Er hätte den Zarenkindern, denen er persönlich eher zugetan war, mehr Freiheit gegeben, aber er übernahm nicht die Verantwortung, dies zu bewilligen.
Viel Schaden wurde ahnungslos zu jener Zeit durch das plötzliche Eintreffen einer Freundin der Großfürstinnen in Tobolsk angerichtet, nämlich Margarita (Rita) Sergievna Hitrovo, einer der ehrenamtlichen Hofdamen. Sie hatte keine besondere Funktion zu Hofe gehabt, aber in dem Krankenhaus der Zarin gearbeitet und große Bewunderung für die Großfürstin Olga Nikolaevna entwickelt. Während ihrer Reise benahm sie sich töricht und schrieb unvorsichtige Postkarten an ihre Familie, welche den Verdacht erregten, daß sie mit einem politischen Auftrag käme. Als sie im September in Tobolsk ankam, ging sie direkt zu dem Kornilov Haus, um Gräfin Hendrikov zu besuchen. Keiner durfte das Haus ohne eine Sondergenehmigung betreten. Sie wurde natürlich von den Soldaten erwischt, Alarm wurde geschlagen, Fräulein Hitrovo wurde sofort verhaftet und nach Moskau gebracht. Sie hatte einige völlig harmlose Briefe für die kaiserliche Familie mitgebracht, die sie Kobylinskij zur Weiterreichung geben wollte, aber sie hatte die Regeln gebrochen, und ihr Besuch bei Gräfin Hendrikov führte zu einem Kreuzverhör, für die Gräfin zu einem Tag Arrest in ihrem Zimmer und zu vielen bangen Augenblicken für den Kommandeur. In Moskau wurde schließlich erwiesen, daß Frl. Hitrovo überhaupt keine politische Sendung hatte und sie ihre Reise nur aus dem Wunsch, ihre geliebte Großfürstin zu sehen, unternommen hatte. Sie wurde auf freien Fuß gesetzt, aber die Gefangenen in Tobolsk litten unter ihrer Eskapade. Obwohl die kaiserliche Familie sie gar nicht gesehen hatte, waren die Soldaten erzürnt über diese Mißachtung der Anordnung und verstärkten ihre Wachsamkeit und Strenge. Sie fürchteten, daß ein “Komplott” geschmiedet würde, und es war nach dem Besuch von Frl. Hitrovo, daß die Gefolgschaft nur unter bewaffneter Bewachung ausgehen durfte. Als im November die Garderobiere der Kaiserin, Madeleine Zanotti, und zwei Hofdamen aus Zarskoe Selo ankamen, wurden sie nicht eingelassen, obwohl sie die notwendige Berechtigung von Kerenskij dazu hatten. Ein ähnliches Schicksal ereilte auch mich, als ich ankam. Obwohl mir gestattet wurde, mit den anderen Mitgliedern des Haushaltes einige Wochen in dem Kornilov Haus zu wohnen, mußte ich schließlich eine Unterkunft in der Stadt suchen, obwohl ich die Gefolgschaft täglich sehen konnte. Während ich im Kornilov Haus wohnte, durfte ich überhaupt nicht ausgehen.
Am Morgen nach meiner Ankunft im Kornilov Haus in Tobolsk schrieb mir die Zarin um 8 Uhr: “Weihnachtsabend. Guten Morgen, liebe Iza, ich hoffe, Du hast gut geschlafen und fühlst Dich heute nicht zu erschlagen und erschöpft. Ich sende Dir dieses Bild mit meinem Segen von dem Heiligen von Tobolsk, Ioann Maximovi¡c, dem Metropoliten von Tobolsk. Seine Reliquien liegen in der Kirche auf dem Hügel (leider waren wir noch nicht dort!). Hänge es auf, und möge er Dein Wächter und Führer sein! Mögest Du hier wieder kräftig, gesund und wohlauf werden. Wir haben Gottesdienst um 12 Uhr, ich denke, vielleicht kannst Du kommen, da der Wechsel der Wachen dann gerade vorüber ist, und es wäre gut, Deine Aufnahme hier mit Gebeten zu beginnen. Ich küsse Dich, Darling! A.”
Niemand von außen durfte die kaiserliche Familie besuchen, außer gelegentlich ein Zahnarzt oder ein Augenspezialist, die von Kommissar Pankratov und Kobylinskij hereingebracht wurden. Der Sohn von Dr. Derevenko, Kolja, durfte kommen und mit dem Zarevi¡c spielen. Nicht einmal zu Weihnachten wurde das strenge Regime gelockert, und der Sohn und die Tochter von Dr. Botkin, die mit ihrem Vater in dem Kornilov Haus wohnten, wurden nicht in das Gouverneurshaus gelassen, unter dem Vorwand, sie seien nicht die üblichen Spielgefährten der kaiserlichen Kinder, da sie weder in Zarskoe Selo, noch in Livadia jemals in den Palast geladen worden waren.
Im November erreichte die Nachricht von der Bolschewistischen Revolution vom 7. November Tobolsk, aber das war so weit weg, daß sich dadurch nichts änderte. Die Beamten der Provisorischen Regierung, einschließlich des Gouverneurs, blieben auf ihren Posten, die Banken waren offen und die Gerichte funktionierten weiter. Moskau wurde ignoriert, und solange das Geld reichte, verwaltete sich Tobolsk selbst. Die Wache hatte sich an ihre Gefangenen gewöhnt und war im großen und ganzen höflich zu ihnen. Es gab jedoch ständig kleine Konflikte und gelegentlich auch Krach. Da hatte sich Nikolskij über irgendeinen St. Raphael Wein aufgeregt, der für die Kinder in Reserve aufbewahrt wurde, und der schließlich triumphierend in den Fluß ausgeleert wurde. Aber im ganzen ging alles seinen gewohnten Gang bis zu Weihnachten, als die Soldaten der kaiserlichen Familie sagten, sie sollen ruhig, so lange sie wollen, in ihrer Umzäunung im Freien bleiben, dem Zaren die Waffen präsentierten und ihn in Beantwortung seiner Salutation mit “Guten Morgen, Herr Oberst” begrüßten.
Der größere Skandal aber, welcher der Zarin schwer zu schaffen machte, passierte zu Weihnachten, als der Priester einen unglücklichen Versprecher tat, indem er für die kaiserliche Familie betete, und dazu noch mit ihren ehemaligen Titeln. Man brachte niemals heraus, ob es nun der Fehler des Priesters oder des Diakons war, aber die Soldaten schrieen Zeter und Mordio, und dem Priester drohte Verhaftung. Mit der größten Mühe nur gelang es dem Erzbischof, dieses Urteil abzuwenden, aber der Priester wurde versetzt und die kaiserliche Familie war nun auch der Tröstung einer “richtigen” Kirche beraubt. Nach diesem Vorfall wurden ihre Kirchgänge ein seltenes Ereignis, weil die Soldaten jedes Mal einen Einwand erhoben, und der Erzbischof schließlich aushalf, indem er die Einrichtung einer zeitweisen Kapelle in dem Haus gestattete.
Als die Soldaten begriffen, daß die “Novemberrevolution” die Bolschewiken in Moskau endgültig an die Macht gebracht hatte, merkten sie auch, daß die Verwaltung in Tobolsk keine Regierung mehr hinter sich hatte. Sie setzten nun ihre Meinung mehr und mehr durch, und die Offiziere versuchten, sie versöhnlich zu stimmen, genau wissend, daß sie sich nun nur noch auf ihr persönliches Prestige verlassen konnten. Solange die Entlohnung der Männer in den Händen von Oberst Kobylinskij lag, und er sie regelmäßig auszahlen konnte, gingen die Dinge mehr oder weniger reibungslos. Sie hatten die Offiziere gezwungen, ihre Dienstgradabzeichen und Orden abzulegen, und dem Kaiser wurde nahegelegt, dasselbe zu tun, um nicht die Männer herauszufordern, sie ihm zwangsweise abzunehmen. Dennoch gewannen diese allmählich ganz deutlich die Oberhand. Die Kaiserin merkte wohl die Veränderung bei den Soldaten, aber sie hoffte, daß dies nur eine vorübergehende Phase sei. So schrieb sie mir zu Weihnachten:
“Ein gesegnetes Weihnachten, liebste Iza! Ich küsse Dich und wünsche Dir was! Vor allem wünsche ich, Gott möge Dir gute Gesundheit, inneren Frieden schenken, du¡zevnij mir, welcher das größte Gut ist. Wir können um Geduld beten, die wir alle in dieser Welt des Leids (und der äußersten Tollheit) brauchen, um Trost, Stärke und Glück. Ein ‘fröhliches Weihnachen’ zu wünschen, mag zwar etwas komisch klingen, aber es bedeutet nun die Freude über den Neugeborenen König, der starb, um uns alle zu retten, und erneuert das nicht etwa unser Vertrauen und unseren Glauben an die unendliche göttliche Gnade? Er steht so weit über allem, ist Alles in Allem: Er wird Gnade erweisen, wenn die richtige Zeit kommt, und wir müssen geduldig und ergeben Seinen guten Willen erwarten. Wir sind hilflos, die Dinge zu berichtigen – wir können nur vertrauen, vertrauen und beten und niemals den Glauben oder unsere Liebe zu Ihm verlieren. Ich betete für Dich und werde es wieder bei der Liturgie tun. Zu schade, daß Du nicht gehen kannst. Ich hoffte wenigstens, durch eine Nebentür in eine andere Kirche. Der Zar und die Kinder senden Dir Grüße und viele gute Wünsche. Sie teilen meine Betrübnis. Gott segne Dich! Kannst Du nicht mal aus dem Fenster schauen und Nastinka (Gräfin Hendrikov) sagen, wann? Um ein Uhr, sagen wir, und dann können wir am Fenster in der Ecke gucken, und vielleicht einen Blick von Dir erhaschen. Nun auf zur Kirche! Gott segne und beschütze Dich. Ein Küßchen von Deiner Dich liebenden A. Ein glückliches Weihnachten für Miss Mather.”
(Meine frühere Gouvernante, die mich auf meiner Reise nach Sibirien begleitete.)
Der tiefe Glaube der Kaiserin stand ihr zur Seite und half ihr, alle ihre Prüfungen mit innerer Kraft zu ertragen und bis zum Ende die Hoffnung nicht zu verlieren. In Tobolsk gewann sie diese überirdische Ruhe, die manchmal auf jene herabsteigt, die den Großen Schatten vor sich sehen, ohne vielleicht seine unmittelbare Nähe richtig zu begreifen. Sie hatte so sehr gegen ihre menschlichen Schwächen gekämpft, daß sie die wahre christliche Demut erlangte und ihren stolzen Geist erzog, nicht zu rebellieren. In jenen bangen Monaten der Introspektion lernte sie in aller Aufrichtigkeit, Prüfungen und Widrigkeiten als ein Geschenk Gottes anzunehmen, als eine richtige Vorbereitung auf das zukünftige gesegnete Leben. Sie hatte immer das Ewige Leben als ihr letztes Ziel betrachtet, und nun, wo ihre Bindungen an die irdischen Dinge sich allmählich lockerten, sah sie die Tore des Himmels sehr nahe.
Sowohl der Zar als auch die Zarin hatten die Gefahr, die ihrem Leben droht, vom Anfang der Revolution an gespürt, aber obwohl die Zarin auf keine Gnade von den Extremisten in Moskau hoffte, die größtenteils gar keine Russen waren, vertraute sie immer noch darauf, daß kein echter Russe jemals Hand an den Zaren legen würde. Sie war überzeugt, daß ihren Kindern keine akute Gefahr drohe. Sie sah eine traurige Zukunft für ihre Töchter voraus, die ihre Jugend unter solch tragischen Umständen verbringen mußten, aber sie bangte nicht um ihr Leben. Inmitten ihrer eigenen Sorgen dachte Alexandra Feodorovna an andere, nicht nur an jene, die tatsächlich bei ihr waren, sondern auch an jene weit weg. Trotz ihrer stets zunehmenden finanziellen Schwierigkeiten brachte sie es fertig, Lebensmittelpäckchen an demütige Freunde in Zarskoe Selo zu senden, wo zu jener Zeit die Leute nahe am Verhungern waren. Die Zustände in Rußland waren unbeschreiblich viel schlechter als sie jemals zu kaiserlichen Zeiten gewesen waren. Alle Briefe der Zarin von jener Zeit sind voller Besorgnis um ihre Freunde und zeigen deutlicher als all meine Worte die Gedanken, die ihr Gemüt erfüllten. So schrieb sie im März an Madame Vyrubova aus Tobolsk:
“Mein Herz ist bekümmert, aber meine Seele bleibt ruhig, da ich Gott immer nahe fühle. Ja, was beschließen sie in Moskau? Gott helfe uns!... Frieden, und trotzdem rücken die Deutschen immer weiter vor.” Oder: “Wann wird dies alles ein Ende haben? Wie liebe ich mein Land mit all seinen Fehlern! Es wird mir immer teurer, und ich danke Gott täglich, daß Er uns erlaubt, hier zu wohnen und uns nicht noch weiter weg schickt. Glaube an das Volk, Liebling! Die Nation ist stark und jung und weich wie Wachs. Jetzt gerade ist sie in schlechten Händen, und Finsternis, Anarchie herrschen. Aber der König der Herrlichkeit wird kommen und wird dem Volk, das nun getäuscht ist, Rettung, Kraft und Weisheit geben.”
Sie hegte die Hoffnung, daß die Fastenzeit und der kommende Frühling in den Menschen, wie in der Natur einen Wandel vollziehen würden: “Bald kommt der Frühling, um unsere Gemüter zu erheitern (schrieb sie am 15. März 1918 an denselben Empfänger). Der Pfad des Kreuzes zuerst, dann Freude und Frohsinn. Bald wird es ein Jahr sein, daß wir uns trennen mußten. Aber was ist Zeit schon? Das Leben hier ist nichts, die Ewigkeit ist alles, und was wir tun, ist unsere Seelen auf das Königreich des Himmels vorzubereiten. So ist am Ende nichts schrecklich, und wenn sie uns auch alles wegnehmen, so können sie doch unsere Seelen nicht rauben... Habe Geduld, und diese Tage des Leides werden enden. Wir werden alle Pein vergessen und Gott danken. Möge Gott jenen helfen, die nur das Böse sehen, und nicht zu verstehen versuchen, daß dies vorübergehen wird...”.
In einem anderen Brief schreibt sie: “Alles liegt in Gottes Wille. Je tiefer man schaut, umso mehr versteht man, daß es so ist. All die Widrigkeiten werden uns geschickt, damit wir uns von unseren Sünden befreien oder als eine Prüfung für unseren Glauben, ein Beispiel für andere. Damit Pflanzen gut gedeihen, brauchen sie richtige Düngung und Nahrung, und der Gärtner, der durch Seinen Garten schreitet, möchte sich an Seinen Blumen freuen. Wenn sie nicht richtig wachsen wollen, dann nimmt Er Sein Stutzmesser und schneidet aus und wartet, bis der Sonnenschein sie zu neuem Wachstum treibt. Ich möchte ein Bild von diesem herrlichen Garten und allem, was darin wächst, malen. Ich erinnere mich an die englischen Gärten, und in Livadia hast Du das Buch mit den Illustrationen bei mir gesehen, so weißt Du, was ich meine. Gerade sind elf Männer zu Pferde vorbeigeritten, alles nette Gesichter, einfach junge Kerle. So etwas habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Das ist die Wache des neuen Kommissars.
(Wahrscheinlich ist der Lette Dutzmann hier gemeint, der Pankratovs Stelle einnahm. Es wurde nie in Erfahrung gebracht, ob er aus Moskau oder aus Omsk geschickt wurde.)
Manchmal sehen wir auch Leute mit den abscheulichsten Gesichtern. Die würde ich nicht in mein Bild vom Garten mit einschließen. Der einzige Platz für sie wäre außen, wo das gnädige Licht der Sonne sie bescheinen und von allem Schmutz und Bösem, von dem sie bedeckt sind, reinigen würde.”
Graf Benckendorf hatte über die Zarin, nachdem diese die Nachricht von der Abdankung des Zaren vernommen hatte, gesagt: “Elle est grande, grande... mais j’aivais toujours dit, que c’était un de des caractères qui s’élèvent au sublime dans le malheur.” (“Sie ist groß, groß... ich habe ja schon immer gesagt, daß dies einer jener Charaktere ist, der sich im Unglück zur Größe erhebt”). Jene, die während ihrer Gefangenschaft in Zarskoe Selo und in Tobolsk bei ihr waren, können für die Wahrheit dieser Worte bürgen. (Fortsetzung folgt)
Bote 1998-4
“Das Leben und die Tragödie von Alexandra Feodorovna,
Zarin von Rußland”, Kapitel 30: Tobolsk, August 1917 bis April 1918 Anfang Bote 3/1998
Die Zarin verbrachte ihre langen Tage in der Vorbereitung der Unterrichtstunden, welche sie weiterhin ihren zwei Kindern gab, Deutsch für die Großfürstin Tatjana und Katechismus für den Zarevi¡c, da man auf den Priester nach dem Zwischenfall mit den Namen in der Kirche nicht mehr mehr rechnen konnte.
Sie stand manchmal spät auf und nahm ihre Mahlzeiten mit Alexej Nikolaevi¡c in ihrem Zimmer ein. Sie las eine Menge, arbeitete, schrieb Noten ab und übte die Chorantworten für die Gottesdienste, bei denen sie und ihre Töchter mitsangen. Sie ging sehr selten ins Freie, bei schönem warmem Wetter saß sie jedoch zuweilen gut eingepackt auf ihrem Balkon in der Sonne. Wenn die anderen draußen waren, verbrachte sie oft Stunden am Klavier. Sie hatte keine Notentexte, aber sie spielte aus dem Gedächtnis, ging von einem Lieblingstück zum anderen, wie es ihr in den Sinn kam. Abends, wenn der ganze Haushalt versammelt war, und der Zar nicht gerade laut vorlas, spielte die Zarin bezique mit ihm. Sie hatte ihr ganzes Leben über gefühlt, daß Kartenspielen nicht so ganz richtig ist, aber in diesem Fall opferte sie ihr eigenes Gewissen, um ihm Ablenkung zu verschaffen und zu helfen, die Zeit zu verbringen. Seine Tage waren entsetzlich in ihrer Monotonie. Er las, gab seinem Sohn Unterricht in Geschichte, aber für einen Mann von aktivem Körper und Geist war solch ein Leben unbeschreiblich beschwerlich. Glücklicherweise konnten sie alle in ihre Umzäunung ins Freie hinausgehen, wenn immer sie Lust hatten, so daß der Zar sich Bewegung in der frischen Luft verschaffen konnte, entweder indem er Schnee wegschaufelte oder Holz sägte. Er half auch den Kindern, einen kleinen Schneehügel für den Zarevi¡c zu bauen, was für die jungen Leute ein großes Vergnügen war. Ein Zeichen der veränderten Stimmung bei den Soldaten nach Neujahr war es, daß sie diesen Schneehügel mit der Begründung zerstörten, daß die Kinder von ihm aus Passanten auf der Straße sehen könnten.
In der Vorweihnachtszeit arbeiteten die Zarin und ihre Töchter lange an den Weihnachtsgeschenken für den ganzen Haushalt und die Dienerschaft. Die meisten der Geschenke machten sie selber, was diesen einen größeren Wert gab und gleichzeitig kostensparend war. Es gab auch einen Weihnachtsbaum, und der Kommandeur und die Tutoren des kleinen Zarevi¡c nahmen an der Familienfête teil. Die Botkin Kinder und ich durften nicht bei der Partie dabei sein, als Trost sandte uns die Zarin kleine, von ihr selbst geschmückte Bäumchen. Sogar meine alte Gouvernante, die sie nicht gesehen hatte, wurde nicht vergessen. Die Zarin hatte ihr, um ihr Weihnachten in England in Erinnerung zu rufen, eine kleine Stechpalme gezeichnet, die sie mit einem Kärtchen, “sie möge ein kleines, für sie gemachtes Geschenk und gutherzige Wünsche von der Tochter einere Landfrau annehmen” versah.
Die Kinder schienen ganz vergnügt, nur die zwei ältesten Töchter begriffen, wie ernst die Lage allmählich wurde. Großfürstin Olga erzählte mir, daß sie um ihrer Eltern willen tapfere Gesichter machten. Die Kinder verstanden nichts von der Gefahr, und Großfürstin Maria sagte einmal am Anfang ihres Aufenthaltes zu Mr. Gibbes, sie würde gerne für immer in Tobolsk bleiben. Im Laufe des Winters führten sie sogar ein paar Schauspiele in Französisch und Englisch auf, was eine willkommene Abwechslung darstellte. Zwei Hauslehrer unterrichteten sie, und insbesondere Großfürstin Anastasia zeigte ein entschiedenes Talent für Komödie. Sogar die Zarin lachte während dieser Vorstellungen und um ihrer Kinder willen zeigte sie großes Interesse an ihnen, indem sie Programme schrieb und bei den Kostümen half. Die einzigen Zuschauer waren das Gefolge und die Dienerschaft, die in dem Haus wohnten, und natürlich war auch der Kommandeur anwesend.
Nach Januar gab es neue Probleme für die kaiserliche Familie. Dinge, von denen sie nie geträumt hatten, drängten sich nun ihrer Aufmerksamkeit auf. Bis dahin hatte die Regierung für den Unterhalt des Establishment gezahlt. Als die erste Provisorische Regierung von den Bolschewiken abgelöst wurde, hörten die Zahlungen aus Petrograd auf, und Kobylinskij fand es schwierig, den Lohn für seine Leute zu beschaffen. Um das Notwendige für den Haushalt zu liefern, unterschrieben Fürst Dolgorukov und General Tati¡s¡cev Wechsel in ihrem eigenen Namen, aber die Kaufleute wurden allmählich nervös und die Geschäfte weigerten sich, weiteren Kredit zu gewähren. Es war noch etwas Geld übrig von der Summe, die Graf Benckendorff für die Reise zur Verfügung gestellt hatte, aber um diese so lange wie möglich reichen zu lassen, mußte äußerste Sparsamkeit geübt werden. Als Fürst Dolgorukov diesen Umstand der Zarin auseinandersetzte, besprach sie die Sache mit dem Kammerherrn, und es wurde beschlossen, daß sie, Fürst Dolgorukov und M. Gilliard, ein praktischer Schweizer, den Haushalt zusammen besorgen und die Richtlinien festsetzen würden, wie er mit der geringsten Ausgabe geführt werden könnte. Einige der Diener mußten entlassen werden, wobei die Zarin ihnen genug Geld gab, damit sie nach Petrograd zurückfahren konnten, falls dies ihr Wunsch war. Jene, die blieben, boten an, ohne Lohn zu arbeiten. Das nahm die Zarin jedoch nicht an, obwohl sie sehr gerührt von ihrem Angebot war, und alle Löhne wurden proportional reduziert. Die Mitglieder des Haushaltes taten sich zusammen, um die Küchenrechnung zu zahlen. Das Mittagessen um ein Uhr war die Hauptmahlzeit und bestand aus Suppe, einem Fleisch- oder Fischgericht und etwas gedünstetem Obst. Das Abendessen bestand gewöhnlich aus Nudeln oder Reis oder Pfannkuchen, gefolgt von Gemüse. Oft kamen “Gaben vom Himmel”, wie die Zarin die anonymen Geschenke von Fisch oder Wildbret bezeichnete, welche die etwas magere Kost ergänzten. Wenn diese nicht kamen, dann reichte das Essen gerade für eine Runde aus, keiner konnte nachschöpfen. Es gab natürlich keine Leckerbissen, außer wenn ein reicher Kaufmann als seltenen Genuß etwas Kaviar oder besonders leckeren Fisch schickte. Zucker war sehr knapp, für jeden gab es nur drei Stückchen am Tag. Kaffee war allen unbekannt, außer der Zarin, für die er eine Art von Arznei darstellte. Auf Butter wurde verzichtet, es sei denn sie kam als Geschenk. Die feine Unterwäsche der Kaiserin wurde unter den groben Waschmethoden der lokalen Wäscherei allmählich brüchig. Es gab kein Geld, um neue Sachen zu kaufen, und ohnehin waren fast alle Läden, außer jenen, die das Notwendige verkauften, geschlossen, und die wenigen Artikel, die über Japan hereingeschmuggelt wurden, wurden zu fantastischen Preisen gehandelt. Wie es so kam, hörten einige Freunde von dieser besonderen Panne und sandten dem Kommandeur etwas Unterwäsche und warme Kleidung für die Zarin und ihre Töchter. Sie war ganz überwältigt vor Dankbarkeit und fürchtete, daß die Spender sich ihretwegen etwas abkommen ließen. So zogen sich die langen, dunklen Wintertage monoton hin, und alle versuchten, geistig rege zu bleiben, um sich nicht von den kleinen, trivialen Vorfällen des Lebens unter Hausarrest aus der Fassung bringen zu lassen.
Was besonders quälend war in diesen langweiligen Monate, war der Mangel an zuverlässigen Nachrichten, was in der Welt vor sich ging. Briefe kamen unregelmäßig. Das bolschewistische Regime hatte den Postdienst eingestellt, und die Briefe mußten so viele Tscheka Posten passieren, ehe sie Tobolsk erreichten, daß eine ganze Reihe unterwegs verloren ging. Und selbst wenn Briefe ankamen, so wagte keiner offen zu schreiben, nicht einmal an die Haushaltsmitglieder. Die Zeitungen, die Tobolsk erreichten, enthielten nichts als offizielle, von den Bolschewiken entstellte und gefärbte Telegramme. Ich erinnere mich beispielsweise, daß ich einen Bericht mit allen Einzelheiten über eine Revolution in Dänemark 1918 gelesen hatte, und als ich im nächsten Jahr dorthin kam, hörte ich zu meiner Überraschung, daß dort überhaupt nichts von der Art gewesen war.
Trotzdem waren diese Blätter unsere einzige Nachrichtenquelle, und durch sie konnten wir einen kleinen Schimmer von den Auswirkungen der Revolution bekommen. Der Zar und die Zarin waren unbeschreiblich erschüttert über den Zustand, in den das Land allmählich schlitterte. Das war es, was ihr Leben vergiftete, denn Rußlands Geschick war immer noch ihr Hauptanliegen. Alle Notizen, welche die Zarin mir schrieb, waren von diesen Gedanken erfüllt. Ihre Briefe an Frau Vyrobova zeigen dieselben Sorgen, obwohl sie etwas vorsichtiger ausgedrückt sind, weil diese Briefe der Zensur der Post unterlagen. So schrieb sie: “Ich kann einfach nicht ruhig darüber nachdenken: Welch grauenhafter Schmerz in Herz und Seele. Doch ich bin sicher, Gott wird es so nicht lassen. Er wird Weisheit schicken und Rußland retten, das glaube ich fest.” Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk war ein großer Schlag, ihre wahre Leidensqual, denn das große Opfer des Kaisers war vergeblich gewesen.
Im Februar kam ein Befehl von dem Regimentskommando in Zarskoe Selo, daß einige der älteren Männer der Wache abgelöst werden, weil ihre Dienstzeit zu Ende war und andere Leute an ihrer Stelle geschickt werden. Es scheint, daß die Männer sich ziemlich unwohl fühlten, immer noch unter dem Befehl der alten Provisorischen Regierung zu stehen und insgeheim zwei ihrer Leute nach Moskau entsandt hatten, um herauszufinden, was eigentlich los ist. Dort wurden sie wohlwollend empfangen und bei ihrer Rückkehr konnten sie ihren Kameraden berichten, daß die neuen Herrscher sich fest etabliert hätten und in Zukunft ernst genommen werden müßten. In der Zwischenzeit hatte man sich in Moskau an Tobolsk erinnert. Ein Sowjet wurde auf Moskaus Befehl in der Stadt gewählt, der Gouverneur in den Ruhestand geschickt, und in der zweiten Hälfte Februars machten sich Pankratov und Nikolskij eiligst aus dem Staub, weil die neuen Soldaten von Zarskoe Selo gedroht hatten, sie zu vergiften. Bald danach wurde ein Mann namens Dutzmann als Nachfolger Pankratovs zum Kommandanten ernannt, der sich in dem Kornilov Haus einquartierte. Diese neuen Soldaten waren von derselben Sorte, wie jene, unter denen wir in Zarskoe gelitten hatten. Als die alte Garde abfuhr, kamen einige der Männer verstohlen, um sich von der kaiserlichen Familie zu verabschieden. Zum Schluß hatten sie richtige Zuneigung zu den Kindern entwickelt und waren im großen und ganzen weniger feindlich als zu Anfang.
Ende März trafen noch mehr Soldaten in Tobolsk ein. Bis dahin war die Stadt verschont geblieben. In Tjumen hatten Matrosenbanden bei den Bewohnern für Terror gesorgt, indem sie unter dem Vorwand von “Requisition” plünderten und gefangennahmen, aber die weite Strecke nach Tobolsk waren sie nicht geritten. Nun bekam Tobolsk seinerseits unliebsame Besucher. Keiner wußte, ob sie auf Befehl von Moskau geschickt wurden oder nicht, aber es wurde vermutet, daß sie aus freien Stücken gekommen waren.
Am 26. März kam eine Soldatenrotte aus Omsk, dem Verwaltungszentrum von Ostsibirien. Sie bezogen Quartier in der Mädchenschule unter dem Kommando eines gewissen Dementiev. Außer daß sie dafür sorgten, daß das bolschewistische Regime überall durchgesetzt wurde, verursachte ihre Ankunft nicht viel Veränderungen in der Stadt, und mit der Garde der kaiserlichen Famlie hatten sie nichts zu tun. Auf sie folgte ein Sonderkommando aus dem benachbarten Bergwerkwerkszentrum Jekaterinburg. Diese Soldaten waren zumeist Letten, einige ehemalige Matrosen und einige Arbeiter aus Jekaterinburg. Sie terrorisierten die Tobolsker Bevölkerung gewaltig. Gut situierte Kaufleute wurden täglich verhaftet und eingesperrt, um sie dann gegen große Lösesummen an ihre Familien freizugeben. Beschlagnahmungen begannen, und Plakate wurden in den Straßen aufgehängt, die ankündeten, daß alle Wertsachen, Gold und Silber unter Todesstrafe an die Behörden abgeliefert werden müssen. Die Männer begannen Haussuchungen mit oder auch oft ohne Durchsuchungsbefehl von dem örtlichen Sowjet, der nun das Kommando führte. Die Banden von Omsk und Jekaterinburg schienen nicht gut miteinander auszukommen, und im April fuhren die Männer von Jekaterinburg wieder ab, um ihre Beschlagnahmungen in Beresov, einer Stadt im äußersten Norden, fortzuführen. In wenigen Tagen wurden sie von einem anderen Kommano aus Jekaterinburg mit einem Juden Zaslavskij an der Spitze ersetzt. Obwohl jede Gruppe von Neuankömmlingen insgeheim gehofft hatte, den Zar und seine Familie in ihre Gewalt zu bekommen, versuchten sie nicht, dies gewaltsam zu tun; denn die reguläre Garde drohte, wenn jemand versuchen sollte, ihnen die Gefangenen zu entreißen, würden sie eher selber die ganze kaiserliche Familie umbringen, als sie auszuliefern. Die Soldaten der Garde wurden aber bei all diesen neu eingetroffenen Kommandos immer nervöser. Sie fürchteten, daß sie abgelöst würden, falls sie in der Behandlung der Gefangenen nicht äußerste Strenge zeigten; folglich verboten sie nun dem Gefolge den Ausgang, waren sehr streng zu der Dienerschaft und bestanden sogar darauf, dem Gouverneurshaus eine Hausvisite abzustatten, um sich zu vergewissern, daß dort keine Waffen versteckt seien.
Oberst Kobylinskij gelang es, seine Männer zu besänftigen, indem er ihnen neue Arbeit verschaffte und sie beauftragte, die Weinlager in der Stadt zu bewachen. Das war ein bezahlter Dienst, der vorher von österreichischen Gefangenen ausgeführt wurde, aber da diese gemäß dem Vertrag von Brest-Litowsk nun abfuhren, mußte ein Ersatz beschafft werden.
Im April kam Befehl aus Moskau zur Verhaftung der Bürger Dolgorukov, Tati¡s¡cev und Hendrikov, und die zwei Herren und die zwei Damen (Frl. Schneider wurde von Kobylinskij hinzugefügt) wurden nun auch in das Gouverneurshaus verlegt (13. April). Dieses war nun überbelegt, und die Neuankömmlinge mußten zu zweit und dritt in einem Zimmer wohnen, weil die Damen von ihren Dienerinnen begleitet wurden.
Die Kaiserin war der Bedeutung dieser Veränderungen gegenüber nicht blind. Sie schrieb am 3. April 1918 an Frl. Vyrobova: “Obwohl wir wissen, daß der Sturm sich nähert, sind unsere Seelen in Frieden. Was immer geschieht, ist durch Gottes Willen. Gott-sei-Dank geht es wenigstens dem Kleinen besser.” Sie hatte zusätzlich zu ihrer anderen Belastung große Sorge um den Zarevi¡c, der ernstlich krank geworden war. Er hatte sich bei seinem Spielgefährten, Kolja Derevenko, mit Keuchhusten angesteckt, und bei einem Hustenanfall war ein Blutgefäß gerissen. Die innere Hämorrhagie war beinahe so schlimm wie bei seinem Anfall in Spala. Dr. Derevenko war verzweifelt, denn ihm fehlten praktisch alle wichtigen Medikamente, und er konnte sie in der schlecht bestückten Kleinstadt nicht bekommen. Bis dahin ging es Alexej Nikolaevi¡c sowie seinen Schwestern recht gut. Im Januar hatten sie Masern gehabt, aber im großen und ganzen nicht unter dem rauhen Klima gelitten. Die Zarin saß Tag und Nacht bei Ihrem Sohn und gestattete nur der Großfürstin Tatjana, sie für einige Stunden zu entlasten. Die Schmerzen waren unerträglich, das Fieber hoch, und das Leben des Knaben hing an einem Faden. Glücklicherweise konnte Dr. Derevenko ein neues Mittel ausprobieren, das sich als erfolgreich erwies, und die Blutung hörte auf.
Das Fieber war immer noch sehr hoch und der Patient äußerst schwach, als der Schlag fiel. Die Führer in Moskau waren schließlich doch auf die Gefangenen in Tobolsk aufmerksam geworden. Keiner in Tobolsk wußte, warum sie gerade diese Zeit wählten, noch was ihre Absicht war. Das Eintreffen eines Sondergesandten, Jakovlev, kam sowohl für Kobylinskij als auch für die anderen völlig überraschend. Der mit voller Entscheidungsmacht ausgestattete Jakovlev traf am 22. April ein, und seine Ankunft war geheimnisumwittert. Er wurde von einer Kolonne von berittenen Soldaten bewacht und hatte zwei Assistenten, einen Matrosen Chochriakov, und einen ehemaligen Offizier Rodionov. Ersterer war anscheinend Heizer auf der Alexander II gewesen. Jakovlev selbst war, obwohl er auch den blauen Matrosenkittel trug, von höherer Position. Es scheint, daß er ein politischer Flüchtling und von gewisser Bildung war. Seine Ankunft stellte Dutzmann völlig in den Schatten. Er rief die Wachen zusammen, überhäufte sie mit Lob und stellte ihnen in Aussicht, daß die Regierung sie für ihren treuen Dienst hoch belohnen würde. Oberst Kobylinskij hatte den Eindruck, daß er mit den Leuten umzugehen weiß. Die Soldaten und der örtliche Sowjet waren von seinen Referenzen, die von Sverdlov selbst unterschrieben waren, beeindruckt. Er war nun der Mann, der Befehle zu geben hatte. Man mußte ihm gehorchen, denn er konnte nach Laune jeden ohne Prozeß hinrichten lassen und war offensichtlich eine Autoritätsperson. Nichts wurde anfänglich über das Motiv seines Kommens gesagt, aber Oberst Kobylinskij merkte bald, daß er die kaiserliche Familie wegbringen wollte. Scheinbar hatte er begriffen, daß es unmöglich war, Alexej Nikolaevi¡c in dem Zustand, in dem er sich befand, wegzuschaffen, denn nach einem Besuch im Gouverneurhaus bei der ganzen Familie, ging er ein zweites Mal dorthin, um Alexej Nikolaevi¡c zu sehen und führte dann lange telegraphische Kommunikationen mit Moskau. Jakovlev hatte der Garde gesagt, daß sie und Oberst Kobylinskij nun ihrer Dienstpflicht enthoben würden. Der Oberst blieb nominell bis 14. Mai auf seinem Posten, aber alle Befehle wurden nun von Jakovlev und Rodionov gegeben. Kobylinskij hatte den Eindruck, daß Jakovlev selbst dem Zaren nicht feindlich war, und er war eigentlich sehr optimistisch, nachdem er den ersten Schock des neuen Regimes überwunden hatte. General Tati¡s¡cev war weniger hoffnungsvoll und sagte mir, daß er dies als die bisher gefährlichste Krise für die kaiserliche Familie ansehe.
Am 25. April erzählte Jakovlev dem Kaiser, daß er ihn woandershin bringen würde, obwohl er weder den Grund dafür noch den Ort nannte. Als der Kaiser sich weigerte, wegzugehen, erklärte Jakovlev, wenn er nicht freiwillig gehe, dann müsse er Gewalt anwenden, da er Anweisung hätte, ihn an einen anderen Ort zu bringen. Allgemeine Bestürzung herrschte. Alle dachten, daß der Kaiser nach Moskau gebracht werden würde, und was würden sie dort mit ihm tun? Das war die allerschlimmste Zeit für die Kaiserin. Sie war zwischen ihren Gefühlen als Ehefrau und als Mutter hin und hergerissen. Sie fühlte, daß sie den Kaiser nicht alleine reisen lassen könne. Andererseits lag ihr Sohn gefährlich krank danieder, und der Gedanke, ihn in diesem Zustand verlassen zu müssen, raubte ihr beinahe den Verstand. Es war das einzige Mal, daß sie ihre Fassung völlig verlor und in ihrer Trostlosigkeit stundenlang im Zimmer auf und abschritt. Die Abfahrt des Kaisers stand unmittelbar bevor, und eine Entscheidung mußte getroffen werden.
(Die Magd der Kaiserin Tutelberg erzählte Richter Sokolov, der später von Admiral Kol¡cak zur Untersuchung der Umstände des Verschwindens der kaiserlichen Familie eingesetzt wurde, daß die Kaiserin zu ihr gesagt hatte: “Das ist der härteste Augenblick in meinem Leben. Du weißt, was mein Sohn mir bedeutet, und ich muß zwischen ihm und meinem Gatten wählen. Aber ich habe mich entschlossen. Ich muß stark sein. Ich muß mein Kind verlassen und Leben oder Tod meines Gatten teilen.” Enquête judiciaire sur l‘assassinat de la Famille Impériale Russe, Nicolas Sokolov)
Schließlich brachte Großfürstin Tatjana ihre Mutter dazu, eine Entscheidung zu treffen: “Du kannst dich nicht unentwegt so quälen”, sagte sie. Die Kaiserin nahm all ihren Mut zusammen, ging zum Kaiser und sagte, daß sie mit ihm fahren würde. Um den Zarevi¡c könnten sich seine Schwestern kümmern, sie fühle einfach, daß sie bei ihm sein müsse. Die Mädchen beschlossen unter sich, daß Großfürstin Maria, welche physisch die kräftigste unter den Schwestern war, mit ihren Eltern gehen sollte. Olga Nikolaevna sollte das Haus übernehmen, Tatjana Nikolaevna sich um ihren Bruder kümmern, während Anastasia Nikolaevna zu jung war, um in Betracht gezogen zu werden. Prinz Dolgorukov hatte den Kaiser gefragt, welcher der Herren mit ihm gehen solle, und der Kaiser hatte ihn gewählt. Dr. Botkin erschien auch und trug sein wohlbekanntes schwarzes Köfferchen bei sich, und als er gefragt wurde, warum er es gebracht hätte, sagte er, er würde es vielleicht brauchen, da er selbstverständlich mit seiner Patientin (nämlich der Kaiserin) fahren würde. Die kaiserliche Familie verbrachte den Rest des Tages alleine. Der kranke Knabe mußte auf die Abreise seiner Eltern vorbereitet werden, und die Kaiserin war die meiste Zeit bei ihm und versuchte ihre Abreise nur beiläufig zu erwähnen, um ihn nicht zu erschrecken, und sagte ihm, daß er und seine Schwestern bald nachkommen würden. Am Abend trank der Haushalt zusammen mit der kaiserlichen Familie Tee. Die Großfürstinnen saßen alle so nahe wie möglich neben ihrer Mutter und gaben ein Bild der Verzweiflung ab. Um drei Uhr früh verabschiedeten sich die Majestäten von ihrem Gefolge und den Dienern. Um vier Uhr hielten einige ungefederte Reisewagen vor dem Haupteingang. Derjenige für die Kaiserin hatte ein Verdeck und sie wurde da hineingehoben. Dr. Botkin sagte, es sei unmöglich, daß sie so unbequem reise, die Reisewagen hatten nämlich keine Sitze, so wurde etwas Stroh von einem Schweinestall gebracht und hineingelegt und darüber einige Decken und Kissen gebreitet. Die Zarin winkte dem Zar, er möge ihr folgen, aber Jakovlev sagte, daß er mit ihm fahren müsse, so stieg Großfürstin Maria stieg zu ihrer Mutter ein. Jakovlev stand still, als der Zar heraustrat und der Wachposten präsentierte das Gewehr. Jakovlev zeigte im großen und ganzen Respekt in seinem Benehmen Seiner Majestät gegenüber und erwies sich sogar rücksichtsvoll, indem er anordnete, daß der Zar einen zusätzlichen Mantel mitnehmen solle. Im dritten tarantas, wie die ungefederten sibirischen Reisewagen heißen, nahm Prinz Dolgorukov und Dr. Botkin Platz. In dem vierten waren Matveev, ein Offizier der Tobolsker Garde, und eine der Hofdamen der Zarin, Anna Stepanovna Demidova. Der kaiserliche Kammerdiener @Cemodurov, und ein Diener Sednev gehörten mit zur Partie. Eine berittende Eskorte, bestehend aus einigen von Jakovlevs Männern und einigen der Schützen, die den Kaiser begleiten wollten, umgaben die Reisewagen; der ganze Konvoi fuhr um vier Uhr mit voller Wucht ab und ratterte in dem trüben Morgenlicht über die Straßen. Die drei Großfürstinnen schauten den Wagen nach, und erst nach langer Zeit verschwanden ihre einsamen Gestalten hinter einer offenen Tür.
Die Reise war fürchterlich, und man kann sich vorstellen, was die Zarin litt, als sie mit voller Geschwindigkeit über die schrecklichen sibirischen Wege geschüttelt wurde. Die Straßen war zu den besten Jahreszeiten schon schockierend, und gerade jetzt war ihr Zustand am schlimmsten, denn tagsüber schmolzen Schnee und Eis und gefroren nachts wieder zu harten Klumpen. Die Zarin sandte mir eine Notiz aus Tjumen, daß “ihr die Seele aus dem Leib geschüttelt wurde”. Mehrere Male gingen die Räder ab, zerbrachen und das Geschirr fiel herunter.
Sie fuhren den ganzen Tag, verbrachten einige Nachtstunden in einem Bauernhaus, wo sie auf den mitgenommenen Feldbetten schliefen, der Kaiser und die Kaiserin mit ihrer Tochter in einem Zimmer, die Herren in einem anderen. Die Damen waren halberfroren. Jemand, der sie bei einer ihrer Stationen sah, erzählte, daß die Großfürstin, als sie ausstieg, um die Kissen ihrer Mutter zu ordnen, so kalte Hände hatte, daß sie lange Zeit ihre Finger reiben mußte, um sie überhaupt gebrauchen zu können. Sie und die Zarin trugen nur dünne Mäntel aus persischem Lammfell, die für Autofahrten in Petrograd geeignet waren. Sie mußten einige Flüsse überqueren, wo das Eis so gefährlich war, so daß sie zu Fuß über Bretter gehen mußten. An einer Stelle mußte der Kaier knieetief durch das eisige Wasser waten und die Zarin auf seinen Armen tragen. Man kann sich vorstellen, in welchem Zustand sie in Tjumen ankamen, doch die Zarin bat, Jakovlev den Kindern ein tröstendes Telegramm zu schicken, sie seien “alle gut angekommen”. In Tjumen erwartete sie ein Zug. Es war wohl Jakovlevs ursprüngliche Absicht, sie nach Moskau zu bringen. Dorthin gibt es von Tjumen zwei Routen. Die eine westwärts über Jekaterinburg, die andere, indem man zuerst nach Osten bis Omsk fährt und von dort über @Celjabinsk abzweigt. Jakovlev wählte letztere, um Jekaterinburg, wo ein ultraroter Sowjet herrschte, zu vermeiden. Sie erreichten die Station vor Omsk sicher, aber die Behörden in Omsk fürchteten wohl, daß die Gefangenen weiter nach Osten entkommen könnten und erlaubten ihnen nicht, von Omsk weiterzufahren. Jakovlev versuchte lange mit dem Sowjet von Omsk zu verhandeln und sprach auch direkt mit Moskau. Als Ergebnis der Instruktionen, die er erhielt, wurde der Zug auf Jekaterinburg zurückgedreht, das offensichtlich über die Ankunft des Zuges benachrichtigt worden war. Als der Zug außerhalb der Stadt hielt, umgab ihn eine große Anzahl von Soldaten. Jakovlev begab sich zu dem örtlichen Sowjet und legte dort offenbar seine Vollmacht nieder, so daß der Kaiser und die Kaiserin den Ural-Behörden von Jekaterinburg ausgeliefert wurden. Der Kaiser, die Kaiserin und ihre Tochter mit Dr. Botkin, die Hofdame und die zwei Diener wurden in Automobilen zu dem Haus eines lokalen Ingenieurs namens Ipatiev gebracht, wo sie gefangen gesetzt wurden. Fürst Dolgorukov wurde in das Stadtgefängnis verfrachtet (30. April).
Die Zarin war total erschöpft an Leib und Seele. Sie konnte kaum mehr stehen, als sie aus dem Auto stieg. Von Alexej Nikolaevi¡c hatte sie überhaupt keine Nachricht. Die Briefe, die sie täglich ihren Kindern geschrieben hatte, blieben ohne Antwort, und sie war entsetzlich besorgt. Zum Glück kam bald ein Telegramm von der Großfürstin Olga Nikolaevna, worin stand, daß die Gesundheit des Knaben besser geworden sei, doch die meisten Briefe der Kinder bekam sie nie. Zu Anfang schien sie noch Hoffnung gehabt zu haben, daß der Aufenthalt in Jekaterinburg nicht so lange sein würde, und ihre Hauptsorge war wohl die Abwesenheit ihrer Kinder und der Gedanke an deren Reise.
Fortsetzung folgt