Starzen der Optina Pustyn
Bote 1992-2
Starzen der Optina Pustyn’ siehe Anfang Bote 4/1991
Starez und Skit-Vorsteher Hieroschimonachos
Anatolij (Serzalov) von Optina
Als der große Starez Makarij bereits am Abend seines Lebens angelangt war, führte der Herr auf die Gebete des hl. Johannes des Täufers, des Schutzherrn des Skits, denjenigen herbei, den er dazu bestimmt hatte, zuerst Gehilfe und dann Nachfolger des großen Starez Amvrosij zu werden.
Starez Hieroschimonachos Anatolij wurde am 6. März 1824 im Dorf Boboli des Gouvernments von Kaluga in einer Diakonsfamilie geboren und bei der heiligen Taufe Alexej, zu Ehren des heiligen Alexej des Gottesmannes, genannt.
Die ehrwürdigen Eltern hegten den heiligen Wunsch, ihr Sohn möge einmal Mönch werden und sie erzogen ihn mit bewußter Strenge. Zur rechten Zeit wurde Alexej in die geistliche Lehranstalt von Borovsk gebracht und nach Beendigung des dortigen Kurses kam er in das Seminar nach Kaluga. Im Alter von 14 Jahren erkrankte er schwer, so daß er ein Schuljahr verlor. Durch gute Gesundheit zeichnete er sich nie besonders aus. Die Neigung zum Mönchstum zeigte sich schon früh in ihm, und beinahe wäre er zu den Einsiedlern in den Roslavlschen Wäldern gegangen.
Als der Seminarkurs abgeschlossen war, wurden dem zukünftigen Asketen einige Priesterstellen angeboten, er lehnte diese Angebote jedoch ab. Er trat in den Staatsdienst (Kameralhof), lebte jedoch zu Hause. Mit seiner Mutter, die stets gerne die heiligen Stätten besuchte und mit seiner Schwester Anna begab er sich nun auf Pilgerfahrt zum ehrwürdigen Sergij. Sie besuchten auch Chotkov, wo es ihnen sehr gut gefiel, und der junge Mann überredete seine Schwester, in dieses Kloster einzutreten.
Aber bald erkrankte Alexej und der Doktor stellte Schwindsucht fest. Damals gelobte der Kranke, daß er im Falle der Genesung ins Kloster eintreten würde. Die Eltern segneten ihn mit Freude zu diesem Unternehmen.
In Optina wurde er liebevoll von Archimandrit Moisej aufgenommen. Am 17. November 1862 wurde er mit dem Namen Anatolij zum Mönch geschoren, zu Ehren des hl. Anatolij, des Patriarchen von Konstantinopel, dessen Gedenken am 3. Juli gefeiert wird.
Als die Mutter kam, um sich nach dem jungen Novizen zu erkundigen, empfing sie Starez Makarij mit den Worten: “Gesegnet bist du, edle Frau, welchen guten Pfad hast du deinem Sohn gewiesen!” Der Starez begann nun den Mönch Anatolij im Jesusgebet zu unterweisen und ihn mit Liebe zu führen.
Anfangs arbeitete er in der Küche, wo er nur wenig Schlaf bekam und dazu noch auf dem Brennholz schlafen mußte. In seiner Freizeit ging er tief in den Wald, wo er in der Einsamkeit betete.
Wenn der Starez keine Zeit hatte, segnete er Anatolij sich an Vater Amvrosij zu wenden, und fügte als Erklärung hinzu: “Er ist sehr flink”. Unter der weisen Betreuung der Starzen Makarij und Amvrosij schritt er auf dem Weg des wachsamen und unermüdlichen geistlichen Tuns, indem er sich an der Lektüre des Wortes Gottes und der asketischen Schriften erbaute, so schnell in seiner geistlichen Entwicklung fort, so daß man schon damals seine zukünftige sittliche Größe sehen konnte.
Als Hieroschimonachos Makarij starb, kamen sich die Väter Anatolij und Amvrosij besonders nahe durch den Verlust des von ihnen beiden geliebten Starzen und geistlichen Führers. Starez Amvrosij, der sah, daß Vater Anatolij schon das Maß eines hohen geistigen Niveaus erlangt hatte und allmählich reif wurde, andere zu unterweisen, führte ihn nach und nach in seine Starzen-Tätigkeit ein und machte ihn sozusagen zu seinem Mitarbeiter, ähnlich wie er seinerzeit von Vater Makarij eingeführt worden war.
1870 wurde Vater Anatolij zum Priestermönch geweiht. Im folgenden Jahr wurde er auf Order des Synods vom 3. August 1871 zum Abt des Spasso-Orlovskij Klosters im Gouvernement von Vjatka mit der gleichzeitigen Beförderung zum Archimandriten ernannt, aber wegen der Last der Starzenschaft und der Gehorsamspflicht Vater Amvrosij gegenüber verzichtete er auf diese geistliche Karriere.
Starez Amvrosij, der das geistliche Wachstum Vaters Anatolijs sah, erbat ihn sich zuerst als Gehilfen, und dann als Leiter des Skits. Diese Ernennung folgte bald auf die Weihe zum Priestermönch; und schließlich wurde Vater Anatolij auf Vorschlag Vater Amvrosijs am 13. Februar 1874 zum Skit-Vorsteher ernannt.
Es war gerade die Zeit der Gründung des Schamordino Klosters. Vater Amvrosij, der infolge seiner Krankheit an sein Bett und seine Zelle gefesselt war, benötigte nun besonders die Assistenz von Vater Anatolij, der ihm ein äußerst treuer und ergebener Mitarbeiter bei diesem Werk wurde. Seine Arbeit umfaßte alle Aspekte des Klosterlebens und seiner Bewohnerinnen.
Als in Schamordino eine Kirche gebaut wurde, unterwies Vater Anatolij selber die Schwestern hinsichtlich der gottesdienstlichen Regeln und des Typikons. Als die Kirche schon eingeweiht worden war, lebte und zelebrierte er zwei Wochen lang dort, wobei er die Schwestern in der Gottesdienstordnung und im Singen unterwies. Täglich war er bei allen Gottesdiensten anwesend und lehrte die Schwestern die “Fünfhundert Gebete” (über diese “Fünfhundert Gebete” gibt es eine besondere von Optina herausgegebene Schrift) zu sprechen und vom rechten Chor aus verfolgte er ihre Ausführung.
Batjuschka hatte eine außergewöhnlich gutmütige Natur und war sehr barmherzig. Einundzwanzig Jahre lang diente der Starez seinen geistlichen Kindern, den Insassen des Klosters. Als ein treuer Gefährte in der Askese des großen Starzen und Gründers des Klosters war er ganz der heiligen Sache der Führung der Seelen zur Erlösung ergeben, und richtete alle seine Kräfte auf dieses Werk.
Mit dem Segen von Vater Amvrosij suchten die Nonnen einer mehrerer Diözesen (Kaluga, Moskau, Smolensk, Tula, Orjel, Kursk und eventuell noch anderen) geistliche Führung bei Vater Anatolij.
Vater Anatolij, der selber ein flammender Beter und ein Ausüber des Jesusgebetes war, ermunterte stets die Schwestern dazu, unaufhörlich dieses Gebet zu sagen, wobei er sie darauf hinwies, wie unerläßlich es ist, die Reinheit des Herzens zu bewahren.
Weder Demut noch Geduld kann man ohne Gebetshinwendung zu Gott erlangen. Das Jesusgebet betrachtete er als das Hauptmittel zur Errettung.
An den Tagen der Kommunion - so lehrte Batjuschka Vater Anatolij - ist es besonders nützlich und wichtig, dieses Gebet zu sprechen, und während der Liturgie, wenn man kommunizieren will, soll man auf sich selbst achten, mit niemandem reden und die Gedanken nicht herumschweifen lassen. “Am besten ist es - so schrieb er - in das weiche junge Herz den süßesten Namen einzuritzen, das lichtvolle Gebet: Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich über mich Sünder. Hier wird der Gipfel aller Freuden, unendliche Seligkeit sein! Dann, d.h. wenn Jesus ins Herz einzieht, begehrst du weder Rom noch Jerusalem. Denn der König mit Seiner Allbesungenen Mutter und allen Engeln und Heiligen wird Selber zu dir kommen und in dir wohnen. Ich und der Vater kommen zu ihm und nehmen Wohnung bei ihm”.
Vater Amvrosij bezeichnete Vater Anatolij als einen großen Starzen und Praktiker des Jesusgebetes: “Ihm ist solche Gebetstiefe und solche Gnade geschenkt - sagte er - wie sie nur einem unter Tausend gegeben wird”, nämlich das geistige Herzensgebet. Am Ende seiner Tage besaß Vater Anatolij dieselben Gaben der geistlichen Erfahrung, des Einblickes in die Geheimnisse der menschlichen Seele und des Wissens um die Zukunft, an denen seine Lehrer, die großen Starzen Makarij und Amvrosij so reich waren.
Nach dem Tode von Vater Amvrosij ließen die Kräfte Vater Anatolijs rasch nach. Er wurde nachdenklich und traurig; schwer empfand er seine geistliche Verwaisung und näherte sich selber bald dem Abend seiner Tage.
Vater Anatolij ertrug seine Krankheit demütig. Am 15. Dezember 1893 empfing er im Geheimen das große Schema, worum nur sein geistlicher Vater Gerontij und einige ihm nahestehenden Personen wußten. Dreieinhalb Monate später, am 25. Januar 1894 während der Kanon für das Scheiden der Seele gelesen wurde, entschlief Vater Anatolij friedlich im 71. Jahre seines Lebens. Er fand seine letzte Ruhestätte nicht weit von den Gräbern seiner großen Lehrmeister.
“Gewähre uns, wahrhaft mit Dir zu kommunizieren am sich niemals neigenden Tage Deines Königreiches!”, schrieb Starez Anatolij. “Warum kennt dieser Tag keinen Abend? Deshalb, weil seine Sonne kein Geschöpf, sondern Jesus Christus Selbst ist. Einmal geht diese Sonne auf und sie geht in unendlichen Zeitaltern nicht unter, verdunkelt nicht, noch wird sie von Wolken überschattet, noch sind ihre Strahlen versengend! Dort scheint unvergängliches Licht! Unerreichbare Schönheit! Ewiger Jubel!”z
Starez Schi-Archimandrit Varsonofij (1845-1913) von Optina
Gleichzeitig mit Vater Iosif und Vater Anatolij und vor allem nach ihrem Hinscheiden wirkte in der Optina Pustyn’ der Skit-Vorsteher Igumen Varsonofij (der spätere Schema-Archimandrit) als Starez.
Starez Varsonofij, der in der Welt Pavel Ivanoviç Plichankov hieß und aus einem Adelsgeschlecht stammte, wurde am 5. Juli 1845 geboren. Nach dem Abschluß seiner Ausbildung im Kadettenkorps von Polozk trat er in den Militärdienst ein und diente sich empor bis zum Rang eines Oberst der Kosakentruppen von Orenburg in der Funktion des Kommandeurs einer mobilisierten Einheit und des rangältesten Adjutanten des Kazaner Militärkreises. Aber die geistige Gesinnung, die ihm von seinen ehrwürdigen Eltern schon in der Kindheit eingepflanzt worden war, gewann die Überhand über andere Interessen, und er beschloß, sich Gott zu weihen.
Später erzählte Vater Varsonofij über sich selber: “Täglich ging ich zur Liturgie. So hatte es mich meine Stiefmutter gelehrt, und wie ich ihr nun dafür dankbar bin! Es war zu Hause im Dorf, als ich erst fünf Jahre alt war, da weckte sie mich jeden Morgen um 6 Uhr. Ich hatte keine Lust aufzustehen, aber sie zog mir einfach die Decke weg und zwang mich, aufzustehen, und ich mußte, wie immer das Wetter auch war, eineinhalb Werst zur Kirche gehen. Dank sei ihr für diese Erziehung! Sie war von trefflicher Beharrlichkeit und zog in mir Liebe zur Kirche heran, so wie sie auch selbst stets innig betete”.
Da erkrankte er einmal schwer an Lungenentzündung und befahl seinem Offiziersburschen laut das Evangelium zu lesen; dabei vergaß er sich... und währenddessen wurde ihm eine wunderbare Schau zuteil: er sah die Himmel geöffnet und erbebte ganz vor ungeheurer Ehrfurcht und dem gewaltigen Licht. Sein ganzes Leben zog in einem Moment an ihm vorüber. Er wurde tief durchdrungen vom Bewußtsein der Reue über sein Leben und hörte eine Stimme von oben, die ihm befahl, in die Optina Pustyn’ zu gehen. In seiner Seele vollzog sich eine Wandlung, die geistige Schau öffnete sich ihm und er verstand die ganze Tiefe der Worte des Evangeliums. Nach einem Ausspruch von Starez Vater Nektarij “wurde in einer Nacht durch den Willen Gottes aus einem glänzenden Krieger ein großer Starez”. In der Welt trug er den Namen Pavel, und das an ihm geschehene Wunder erinnert an die wunderbare Berufung seines himmlischen Beschützers, des Apostel Paulus. Pavel Ivanoviç selber, der am Tag der Auffindung der Reliquien des ehrwürdigen Sergij von Radoneœ geboren wurde, betrachtete diesen als seinen Beschützer.
Zur Überraschung aller erholte sich der kranke Oberst recht schnell, wurde wieder gesund und fuhr nach Optina. Als Starez wirkte dort zu jener Zeit Vater Amvrosij, der ihm befahl, alle seine Angelegenheiten innerhalb von drei Monaten zu regeln mit dem Zusatz, wenn er nicht innerhalb dieser Frist komme, ihm dies zu seinem Untergang gereichen würde. Und schon tauchten verschiedene Hindernisse auf. Oberst Plichankov begab sich nach Petersburg, um seinen Abschied einzureichen, aber man bot ihm eine noch glänzendere Stellung an und hielt sein Abschiedsgesuch zurück. Seine Genossen lachten über ihn, die Zahlung der ihm zustehenden Gelder wurde einbehalten, er konnte nicht alles bezahlen, was nötig war und versuchte, Geld zu leihen, aber fand niemand. Aber Starez Varnava vom Gethsemane-Skit half ihm aus der Verlegenheit: er sagte ihm, wo er Geld bekommen könne. Nun beeilte er sich, den göttlichen Befehl auszuführen. Gewisse Personen, die gegen sein Ausscheiden waren, fanden sogar eine Braut für ihn... Einzig seine Stiefmutter war erfreut über seinen Entschluß und segnete ihn zum Mönchspfad. Mit der Hilfe Gottes überwand er alle Hindernisse und traf in Optina am letzten Tag seiner dreimonatigen Frist ein. Starez Amvrosij lag schon im Sarg und er konnte sich gerade noch vor seinem Sarg verneigen.
Im Dezember 1891 wurde Pavel Ivanoviç in die Bruderschaft des dem Vorläufer geweihten Skits aufgenommen. Der Nachfolger Starez Amvrosijs, Vater Anatolij trug ihm als Gehorsam auf, Zellendiener beim Priestermönch Nektarij zu werden. Bei Vater Nektarij durchlief Varsonofij im Verlauf von 10 Jahren alle Stufen des Mönchstums, bis zum Hieromonachos. Außerdem studierte er unter ihm theoretisch und praktisch die Heiligen Väter. Drei Jahre lang begab er sich jeden Abend zu langen Gesprächen zu Starez Anatolij und später zu Vater Iosif.
Im Jahre 1903, als er schon im Rang eines Hieromonachos war, wurde er zum Assistenten des Starzen und geistlichen Vater für das Vater Amvrosij unterstehende Frauenkloster und die Pilger ernannt. Im Japankrieg im Jahre 1904 wurde er in den fernen Osten abkommandiert, um das Lazarett des Hl. Serafim von Sarov zu betreuen, aber nach seiner Rückkehr versah er erneut die Funktion des Geistlichen Vaters.
Im Jahre 1906 berief ihn der hochgeweihte Antonij, der Metropolit von St. Petersburg für eine höhere Funktion, aber aus Demut und Liebe zu einem zurückgezogenen Leben lehnte Vater Varsonofij den Vorschlag des Hierarchen ab und blieb in Optina, wo er 1907 zum Skit-Vorsteher ernannt wurde unter gleichzeitiger Beförderung zum Igumen und Auszeichnung mit einer “Paliza”5 . Ihm wurde die geistliche Betreuung der Bruderschaft und aller Besucher übertragen, mit denen er dann in ununterbrochener geistiger Beziehung stand; dies führte zu einem umfangreichen täglichen Briefwechsel, der nicht weniger als bis zu 4000 Briefe jährlich umfaßte.
Ein strenges Leben, eine große theologische Bildung und eine seltene Besonnenheit zogen ihm sehr bald die Aufmerksamkeit vieler zu. Mit dem Hinscheiden von Erzpriester Johannes von Kronstadt und Starez Varnava vermehrte sich der Zustrom der Pilger nach Optina merklich. Unter ihnen gab es auch viele Personen aus höheren Gesellschaftsschichten und auch Hochschulstudenten beiderlei Geschlechts. Beunruhigt durch verschiedene Gefühle und von Zweifeln verwirrt suchten sie Hilfe und Führung bei Starez Varsonofij, denn bei ihm fanden sie durch die Einwirkung der göttlichen Gnade die entsprechende Heilung.
Batjuschka Varsonofij besaß ein Wesen, das dem der großen Optina Starzen Ljev und Anatolij ein wenig ähnlich war. Seine unbestechliche Gerechtigkeit, Einfachkeit und Geradheit waren allen Hochmütigen, Eigenmächtigen und uneinsichtigen Sündern unerträglich. Er konnte sich niemals verstellen und durchaus keine Doppelherzigkeit ausstehen.
Vater Varsonofij besaß die Gabe der Hellsichtigkeit nicht weniger als die anderen Starzen. Bei ihm kam diese Gabe besonders klar zum Ausdruck. Er hatte Einblick in die Seele des Menschen, was ihn dazu befähigte, die Gefallenen aufzurichten, sie von dem falschen auf den wahren Pfad zu lenken, seelische und körperliche Krankheiten zu heilen und Dämonen auszutreiben.
Der in die Halbmantia, das Epitrachilion und die Epimanikia gekleidete Starez hielt vor der Beichte Ansprachen. In ihnen deckte er die Seele der Anwesenden anhand verschiedener Vorfälle aus ihrem Leben auf und spielte auf vergessene oder zweifelhafte Sünden an. Dabei blickte er keine Person direkt an, um niemanden zu verwirren und keine klare Aussage zu treffen. So sagte eine junge Frau nach solch einem Gespräch: “Aber dieser Batjuschka hat ja mich beschrieben! Das war ja mein Geheimnis, woher konnte er es nur wissen?”
Nach dieser allgemeinen Beichte nahm der Starez dann noch jedem einzeln die Beichte ab. Ohne zu eilen, stellte er Fragen, hörte die Antworten und gab dann seine Anweisungen. Dabei hatte er zu den Höhergestellten genau dieselbe Haltung wie zu den Allerletzten. Indem er äußerst aufmerksam und mit Liebe mit den Menschen umging, kurierte er ihre Seelen, denn er kannte bis ins Genaueste die seelische Verfassung jedes einzelnen. Und keine Seele ging von ihm, die sich nicht vollkommen geöffnet hätte, die aus Vergeßlichkeit oder aus Scheu, es auszusprechen, irgend etwas unaufgedeckt gelassen hätte. “Wenn man sich an die Grundsätze der Ökumenischen Konzilien halten wollte - so sagte Vater Varsonofij - dann müßte man allen eine Epitimie auferlegen und viele Leute sogar zeitweise aus der Kirche ausschließen, aber wir sind hilflos, schwachen Geistes, und daher vertrauen wir auf das unendliche Erbarmen Gottes”.
Indem er die Kommunikanten segnete, riet er ihnen nach der Veçernja, bei der die Kanons gelesen werden, nichts mehr zu essen bis zum Empfang der hl. Geheimnisse. In Ausnahmefällen gestattete er, etwas Tee zu trinken. Manchmal befällt einen am Tag der Kommunion eine bedrückende Stimmung, aber man soll dem keine Achtung schenken und nicht verzweifeln, da der Teufel sich an diesem Tag besonders gegen den Menschen rüstet und ihn hypnotisiert. Hypnose ist eine böse, unchristliche Kraft. Durch diese Hypnose verwirrt der Teufel auch uns Priester, wenn wir die Liturgie vollziehen. Er riet davon ab, am Tag der hl. Kommunion einen Mittagschlaf zu halten.
Vater Varsonofij sagte: “Vor dem Ende der Liturgie soll man nicht aus der Kirche gehen, sonst gewinnt man nicht die Gnade Gottes. Es ist besser gegen Ende der Liturgie zu kommen und zu bleiben, als vorzeitig hinauszugehen”. “Da werden bei uns in der Kirche die Hexapsalmen gelesen, und die Leute gehen oft während dieser Zeit aus der Kirche hinaus. Sie verstehen und fühlen ja gar nicht, daß die Hexapsalmen eine geistige Symphonie darstellten, das Leben der Seele, welches die ganze Seele erfaßt und ihr höchste Labsal verschafft”.
Während der ganzen Zeit seines Daseins in Optina verließ der Starez niemals das Kloster und fuhr nur weg, wenn es die Gehorsamspflicht erforderte. Seine letzte Ausfahrt war im Jahre 1910 zum Bahnhof Astapovo, um den sterbenen Graf L. Tolstoj zu bekehren und ihn auf den Tod vorzubereiten, aber, wie jedermann weiß, ließen ihn die Begleiter des Grafen zum allgemeinen Leidwesen aller Orthodoxen und von Vater Varsonofij selber nicht hinein.
Am 5. April 1912 wurde Vater Varsonofij zum Archimandrit befördert und von Optina auf die Stelle des Vorstehers des Staro-Golutvino Klosters versetzt. Traurigkeit und Trübsal herrschte im Kloster, alle waren irgendwie ungewöhnlich in sich selbst zurückgezogen und liefen mit herabhängenden Köpfen herum, als ob Optina etwas ganz Wertvolles und Wesentliches verlieren würde. In Golutvino führte er einen ungeheuer großen Briefwechsel mit seinen geistlichen Kindern; vom Mittagessen bis zum späten Abend empfing er die Leute, die aus allen Ecken Rußlands angefahren kamen.
Und während so die orthodoxen Gläubigen von überall her zur Erleichterung ihrer psychischen und physischen Nöte zum Starez strömten, ereilte die Krankheit Batjuschka Varsonofij selber. Irgendwie schleppte er sich das ganze Jahr 1912 durch, aber vom Beginn 1913 an begann er rasch an Kraft zu verlieren... Genau 365 Tage waren seit seiner Abreise aus der Optina Pustyn’ vergangen, und damit sollte nach der verschlüsselten Weissagung der seligen Paraskeva von Sarov auch das Ende Batjuschkas zusammenfallen.
Batjuschka litt sehr und stöhnte sogar zuweilen. Außer den gottgefälligen Heiligen und der Mutter Gottes, die er besonders liebte, rief er auch die Starzen von Optina an, indem er betete: “Batjuschka Ljev, Batjuschka Makarij, Batjuschka Amvrosij, Batjuschka Ilarion, Batjuschka Anatolij, Batjuschka Iosif, steht mir durch eure heiligen Gebete bei!”
Am 1. April 1913 um 7 Uhr 7 Minuten morgens legte er seine reine Seele in die Hände des Herrn, den er so geliebt hatte und um dessetwillen er sich sein ganzes Leben lang bis zur letzten Minute gekreuzigt hatte. Sogleich wurde der Körper des Starzen gewaschen und in das große Schema eingekleidet, das er schon 1910 im Geheimen empfangen hatte und in dem er in den Sarg gelegt zu werden geboten hatte.
Zum großen Trost seiner geistlichen Kinder erlaubte der Heilige Synod, ihn in der Optina Pustyn’ beizusetzen, wohin dann sein Körper überführt wurde. Hier, in der Nähe der Grabmäler der großen Starzen von Optina und gegenüber dem Grab des Hieroschimonachos Pimen und neben dem großen Starez Anatolij, seinem geliebten geistlichen Vater und Führer, fand auch Starez Varsonofij seine letzte Ruhestätte. Der große Starez verlosch und legte sich zur Ruhe in seinem geliebten Optina. Das hölzerne Kreuz und das still auf ihm glimmende ewige Licht erinnern jeden an die letzte christliche Pflicht dem Entschlafenen gegenüber: nämlich sich ehrfürchtig zu bekreuzigen und zu Gott zu rufen, der Herr über die Lebenden und die Toten ist: “Laß ruhen, o Herr, die Seele des Entschlafenen! Ewiges Gedenken sei ihm!”
5 Ein viereckiges Tuch, Zubehör des bischöflichen Ornats