Entschlafen der Allerheiligsten Gottesgebärerin - Predigt des Metropoliten Filaret von Moskau vom 15. August 1851
Darauf sagte Er ihnen: Lazarus,
unser Freund, ist eingeschlafen. (Jo. 11, 11)
Heute gedenken wir ehrfürchtig und feierlich des Entschlafens der Allerheiligsten Gottesgebärerin. Was bedeutet Entschlafen? Kraft des Wortes: sich zum Schlaf begeben. Doch wird hiermit das Ende des irdischen Lebens der Gottesmutter bezeichnet. Die Heilige Kirche wollte deutlich die Bezeichnung des Todes umgehen, wenn von der Mutter des Lebens die Rede ist. Doch woher ist die Bezeichnung des Todes als Schlaf entlehnt? Man muß annehmen, aus dem Mund unseres Heilands Jesus Christus. Lazarus, unser Freund, ist eingeschlafen, sprach Er zu den Aposteln, als Er, der Allwissende, ihnen den Tod verkündete, der Lazarus ereilt hatte, während sie sich weit von dem Ort seines Ablebens entfernt befanden. Es ist ersichtlich, daß dies eine neue Sprache war, denn die Apostel verstanden sie nicht, und der Herr erachtete es für notwendig, Seine Aussage in ihre gewöhnliche Sprache zu übersetzen: Lazarus ist gestorben.
Was bedeutet diese neue Sprache? Warum aber bezeichnet Christus und die Kirche den Tod als Schlaf? Welche Gedanken wollen sie uns dadurch nahelegen? Jetzt ist es sowohl an der Zeit als auch nützlich, darauf eine Antwort zu geben.
Warum der Tod des gerechten Lazarus Schlaf genannt wird, ist nicht schwer zu verstehen. Er hat-te die bezeichnende Eigenart des Schlafes, daß er bald durch das Erwachen unterbrochen werden sollte, d. h. durch die Rückkehr zum früheren Le-ben. In dem Wort: ist eingeschlafen ist gleichzeitig mit der Nachricht vom Tod des Lazarus die Prophezeiung enthalten, daß er nach vier Tagen auferstehen wird.
Demnach ist auch zu verstehen, warum der leibliche Tod der Gottesmutter Entschlafen genannt wird. Auch er besaß die charakteristische Eigenschaft des Schlafes, daß er bald durch das Erwachen beendet wurde, d. h. durch die vollkommene Auferstehung zum ewigen Leben. In dem Wort Entschlafen verbirgt sich der Hinweis auf die kirchliche Überlieferung, nach der die Gottesmutter am 3. Tag nach Ihrem irdischen Ableben den Aposteln im himmlischen Ruhm erschien, und dies war nicht allein Ihr Geist, sondern zusammen mit dem auferstandenen Leib, der eben deshalb nicht mehr in Ihrem Grab zu finden war.
Übrigens ist in den Schriften der Apostel der bereits befestigte Brauch erkenntlich, nicht nur in besonderen wunderbaren Fällen, sondern überhaupt den Tod als Entschlafen oder Schlaf zu bezeichnen. So schreibt der Apostel Paulus über die Augenzeugen des auferstandenen Herrn: die meisten sind bis jetzt übriggeblieben, etliche aber auch entschlafen (1Kor. 15, 6). Er schreibt auch hinsichtlich der Auferstehung der Toten: wir werden zwar nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden (1 Kor. 15, 51). D. h. wir werden nicht alle sterben, weil der letzte Tag der Welt die auf der Erde Lebenden antrifft; doch wir werden alle verwandelt werden, weil diejenigen, die der letzte Tag der Welt unter den Lebenden antrifft, keine Zeit haben werden zu sterben und begraben zu werden; ihre Körper unterliegen nicht dem Tod, sondern werden aus verweslichen in unverwesliche verwandelt, wie sie auch diejenigen haben werden, die von den Toten auferstehen.
Durch die Umbenennung des Todes in Entschlafen und Schlaf wollten die in Gott weisen Männer zweifellos ihren Nachfolgern einflößen, daß der Christ den Tod nicht wie die Übrigen, die keine Hoffnung haben, betrachten soll, daß der Tod nicht eine entschiedene Negierung des Lebens ist und nicht der Untergang der Persönlichkeit und des Daseins. Wie ein am abend Entschlafener morgens mit erneuerter Lebenskraft aufwacht, so wacht auch ein im Tod Entschlafener am Tag der allgemeinen Auferstehung zum neuen unsterblichen Leben auf. Wenn wir also aufmerksam sind, so erinnern wir uns bei der Benutzung des Wortes Entschlafen an die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und bekräftigen uns in der Hoffnung auf die Auferstehung auch des Körpers.
Wenden wir uns von den neutestamentlichen Schriften den alttestamentlichen zu, so bemerken wir, daß dort diese tröstende Sorge fehlt, durch die der Gedanke an den Tod in ein lichtes Kleid gehüllt wird. Dort heißt das Ableben sogar der Gerechten und Heiligen nicht Entschlafen, sondern Tod. Im Buch Genesis wird von dem Patriarchen der ersten wie der zweiten Welt gleichermaßen geschrieben: er lebte - und starb (Gen. 5, 5). Vom Vater der Gläubigen selbst steht geschrieben: Abraham verschied und starb (Gen. 25, 8). Ähnlich auch vom Propheten Samuel: Samuel starb (1 Sam. 25, 1). Noch trauriger äußerte sich der Patriarch Jakob selbst über seinen Tod: leidtragend werde ich zu meinem Sohn hinabfahren in die Hölle (Gen. 37, 35). Woher kommt in alttestamentlicher Zeit ein so unerfreulicher Ausblick auf den Tod sogar bei den Heiligen, obwohl sie, wie auch wir, zweifellos an die Auferstehung der Toten und das Leben der künftigen Zeit glaubten? - Daher, daß damals, wie der Apostel sagt: der Tod herrschte (Röm. 5, 14), der noch nicht durch den lebenspendenden Tod Christi besiegt war. Daher, daß damals der Weg zum Heiligtum noch nicht geoffenbart war (Hebr. 9, 8). Der Eingang in das Heilgtum des Himmels war noch nicht geöffnet, wohin Jesus als Vorläufer für uns eingegangen ist (Hebr. 6, 20). Daher, daß die alttestamentlichen Patriarchen, Propheten, Gerechten alle im Glauben gestorben sind und die Verheißungen nicht erhalten haben, sondern sie von ferne sahen und begrüßten (Hebr. 11, 13). Und deshalb waren sie vom nahen Dunkel des Todes stärker gekenntzeichnet als vom entfernten Licht der Auferstehung.
Aus der Gegensätzlichkeit des neutestamentlichen Zustandes der Menschheit gegenüber dem alttestamentlichen eröffnet sich ein neuer Grund jener Betrachtensweise des Todes, vor dem dieser aufhört, als Tod zu erscheinen, und sich zum Schlaf verwandelt. Wären wir, die wir schon seit den ersten Urahnen zum Tod verurteilt sind und täglich selbst die eigene Verurteilung durch willkürliche Sünden bekräftigen, nicht durch das Leiden und den Tod Christi von dem tödlichen Urteil erlöst, so würde uns der zeitliche Tod in den ewigen Tod ohne Hoffnung auf das Erwachen zum Leben hinübergeleiten. Dies wäre der vollkommene Tod. Doch da Christus für uns starb (Röm. 5, 8), da wir durch den Tod seines Sohnes mit Gott versöhnt wurden (5, 10), da Gott, Der reich ist an Barmherzigkeit, wegen Seiner Vielen Liebe, womit Er uns geliebt hat, als auch wir in den Vergehungen tot waren, mit Christus lebendig gemacht hat (Ephes. 2, 4-5), da infolge dessen auch nach dem Tod gleich wie in Adam alle sterben, also in Christus alle lebendig gemacht werden (1 Kor. 15, 22) und zum ewigen und seligen Leben erwachen, welches nur ein Leben in Christus sein kann, - daher hat der Tod wirklich aufgehört Tod zu sein und sich in einen Schlaf verwandelt. Dies ist ein Schlaf von kurzer Dauer im Vergleich zu dem darauf folgenden ewigen Leben, ein friedlicher Schlaf wie ein Ausruhen von den Mühen, wie eine Erleichterung von Kummer, wie die Ruhe derer, die durch Christus im Gewissen beruhigt wurden, kein unbewußter Schlaf, denn es schläft der Körper, die Seele aber schläft nicht, sondern ein bewußt süßer, wie die Vorahnung der künftigen Seligkeit.
Dabei darf man nicht vergessen, daß die Vorzüge des neutestamentlichen gnadeerfüllten Zustandes der Menschheit wohl für alle offen und für alle zugänglich ist, doch nicht jedem von uns nur deshalb gehört, weil wir in neutestamentlicher Zeit leben. Es gab Menschen entfernter alttestamentlicher Zeiten, die dem Geiste nach auch dem neuen Testament angehörten. Ein solcher war Abraham, der frohlockte, daß er den Tag Christi sah, und er sah ihn und freute sich (Jo. 8, 56) und sich natürlich aller Güter erfreute, die der Menschheit in Christus eröffnet wurden. Andererseits gibt es auch in der neutestamentlichen gnadeerfüllten Zeit Menschen, die nach ihrer inneren Einstellung nicht dem gnadevollen Bund Gottes angehören, obwohl sie sich äußerlich mit dem Namen von Christen zieren. Die Tür der Gnade ist allen in Christus geöffnet, Der sagte: Ich bin die Tür, wenn jemand durch Mich eingeht, so wird er gerettet werden (Jo. 10, 9). Doch man muß in diese Tür eintreten; und in sie tritt man ein durch den Glauben und zwar den lebendigen und tätigen. Ich lebe durch den Glauben an den Sohn Gottes (Gal. 2, 20) sagt der Apos-tel. Wer in sich dieses Leben erweckte und bewahrt, der schläft auch im Grab nicht in den Tod ein, sondern erwacht auch vom Lager der Verweslichkeit zur Unverweslichkeit, zum Leben, zum Himmel, zur Seligkeit, zum Ruhm. Doch wer sich nicht müht, in das höhere, selige Leben des Geistes einzudringen, wer ein Leben des alten Adam lebt , wer ein körperliches, sinnliches, sündiges Leben verbringt , das von leidenschaftlichen und lüsternen Gedanken bestimmt wird, der versenkt sich auch inmitten der Anzeichen des Lebens in den tatsächlichen inneren Tod, denn die Sünde, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod (Jak. 1, 15). Dann stirbt er, wenn er nicht umkehrt und Buße tut den sichtbaren Tod eines Sünders, der schrecklich ist (Ps. 33, 22), denn durch ihn geht er schließlich in den ewigen Tod über. Wie er auch versuchen mag, diesen in einen tiefen Schlaf zu verwandeln, um seine Qualen zu vergessen, ist dies doch nicht möglich, weil ihn ständig wecken wird: das unauslöschliche Feuer, der nicht sterbende Wurm, der brennende Schwefel. Und sie werden ihn nicht zum Leben erwecken, sondern immer zum neuen Tod.
Sterblicher Bruder! Mag dein Leben so lange wie möglich dauern. Doch unser Sterbebett ist nicht weit und, wie es häufig geschieht näher, als wir denken. Denke rechtzeitig daran, was du auf ihm finden willst - ein friedliches Entschlafen, oder einen schrecklichen Tod? Und sicher wirst du das finden, was du selbst auswählst und vorbereitest. Denn was ein Mensch sät, das wird er auch ernten (Gal. 6, 7). Hören wir auf, für uns selbst durch unsere Sünden Tod und Qual zu säen. Säen wir für uns das Leben und die Ruhe durch Buße, Glaube und Tugend. Amen.