Das Wesen der Orthodoxen Liturgie
Ich möchte zunächst die Worte des großen russischen Theologen des 19. Jahrhunderts A.S. Cho-mjakow zitieren, der sagte: wer weiß, was die Liturgie ist, der weiß, was die Kirche ist. Diese Worte be-inhalten eine tiefe Wahrheit. Das ganze Leben der Kirche entspringt aus der Liturgie wie aus einer Quelle und kehrt zur Liturgie zurück. Das gilt für das gesamte sakramentale Leben der Kirche. Alle Sakramente der Kirche, angefangen vom Sakrament der Taufe, führen zur Liturgie hin, - oder sie sind ihre Fortsetzung und Verwirklichung im täglichen Leben. Deshalb bezeichnet man zu Recht die Liturgie mit der Eucharistie nicht nur als ein Sakrament, sondern als das allumfassende Sakrament, das Sakrament an sich.
Wir wissen, daß das Wort Liturgie ethymologisch bedeutet: das Werk des Volkes. Sie ist somit das Werk und die Gabe des Volkes Gottes, die Darbringung seiner selbst und seiner Gaben als Geschenk an Gott. Doch die Liturgie ist nicht nur ein Werk des Volkes Gottes, sie ist in erster Linie das Werk Gottes unter uns und an uns. Sie ist der Ort, an dem Gott Sich Selbst den Menschen zum Geschenk darbringt. Dann erst ist sie der Ort, an dem die Menschen sich selbst Gott als Geschenk darbringen. Sie bringen sich selbst dar und ihr ganzes Leben und all ihre Gaben. Die Liturgie ist die Offenbarung und Verwirklichung der Liebe Gottes zum Menschen und zur Welt. Sie ist ebenso die Offenbarung und Verwirklichung der Liebe des Menschen und des Geschöpfes zu Gott. In der Liturgie und durch die Liturgie offenbart Sich Gott und gibt Sich dem Menschen und der Schöpfung als uneigennützige Liebe. In ihr und durch sie offenbart und gibt sich auch der Mensch an Gott in einer von Natur her uneigennützigen Liebe.
In der Liturgie zeigt sich uns noch eine Wahrheit, nämlich die Wahrheit, daß die Vereinigung des Menschen mit Gott das letztendliche Ziel des sakramentalen, ja des gesamten Lebens ist. Alles was mit dem Menschen von seiner Entstehung bis zu seinem Ende geschieht, führt zu der Einheit mit Gott. So offenbart sich uns im Sinn der Liturgie tatsächlich der Sinn des Menschen und der Welt. Die Liturgie mit der Eucharistie als Inhalt und Zentrum zeigt uns, daß die Einheit Gottes und des Menschen nicht nur etwas ist, was wir anstreben und was irgendwann eintreten soll, sondern etwas, was uns geschenkt ist, was schon hier und jetzt besteht. Daher ist die Liturgie ihrer Natur nach ein Unterpfand des ewigen Lebens. Sie ist in dieser vergänglichen Welt, in diesem vergänglichen Leben der Beginn des ewigen Lebens.
In der Liturgie wird uns an erster Stelle der wahre Glaube geschenkt. Aber nicht nur der wahre Glaube, sondern - was noch wichtiger ist - vor allem die Gemeinschaft mit Dem, an Den wir glauben, d.h. die Gemeinschaft mit Christus durch die Kraft des Heiligen Geistes. In der Liturgie offenbart sich uns der Glaube als Realität des Lebens, aber nicht nur als psychologische oder intellektuelle Handlung und Streben. Wir sind auf der Suche, aber wir ha-ben auch das gefunden, was wir suchen, und das ist der eigentliche Inhalt, das Wesen und die Freu-de, die wir in der Liturgie besitzen. Deshalb kann nur derjenige, der die Liturgie wahrhaftig erlebt, die Bedeutung der Worte des Apostels Paulus nachvollziehen: Der Glaube ist die Verwirklichung des-sen, auf was wir hoffen (Hebr.11,1).
In der Liturgie wird uns nicht nur der wahre Glau-be geschenkt, also das, was wir als Orthodoxie bezeichnen, sondern uns wird auch die wahre Art im Glauben zu leben gegeben, die Orthopraxie. Hier wird uns also das wahre christliche Ethos geschenkt. Die gesamte christliche Ethik, alle Gebote sind in der Liturgie in komprimierter Form anwesend. Vorrangig für das Wesen dieses christlichen Ethos ist die Buße (metanoia), Umkehr, die Veränderung der geistlichen Einstellung zum Leben, Erleuchtung, Verklärung des Lebens. Die Buße oder Umkehr als Grundlage des christlichen Lebens ist der Ansatzpunkt für etwas Wichtigeres, worauf uns die Liturgie hinweist und hinführt. Die Liturgie weist uns auf das Wesen des christlichen Ethos hin, das im Opfer besteht. Sie lenkt uns zur opfernden Lie-be, als der einzigen wahren Art menschlichen Daseins hin.
Durch die Liturgie lernen wir, nicht für uns selbst zu leben, sondern für den anderen und die anderen, die nämlich Brüder Des Anderen sind, d. h. Brüder Christi und damit wiederum unsere Brüder. Wenn wir gemäß diesem Ethos leben, dann nehmen wir Christi Ethos auf uns. Der Hl. Johannes Chrysostomos sagt: wir nehmen Christi Ethos auf.
Auf diese Weise offenbart uns die opfernde Liebe, die wir in der Liturgie erfahren, eine weitere Wahrheit, nämlich die Wahrheit: Einheit und Gemeinschaft gehören zur Natur des Menschen und sind seine Berufung. In der Liturgie lernen wir, was wir sind und was wir sein sollen. Hier erfahren wir, daß der Mensch ein Wesen ist, das auf Gott ausgerichtet ist und im Verhältnis zu Gott, zum Nächsten und zur Welt existiert. In der Liturgie ist all dies in reinster Form gegenwärtig. Anwesend ist Gott, Der mit uns und in uns und unter uns ist, als gesegnetes Reich, als Leib und Blut Christi, als Kraft des Heiligen Geistes, als wahres Licht. Hier ist auch der Nächste in der Gemeinschaft der Gläubigen anwesend, und zwar als die Gemeinschaft derer, die gemeinschaftlich den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist bekennen. Der Nächste ist anwesend als Gemeinschaft aller vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Generationen. Drittens ist auch die gesamte Schöpfung in der Liturgie anwesend in Gestalt der eucharistischen Gaben, denn das Brot und der Wein beinhalten in dieser Verwendung das Wesen der gesamten Schöpfung. Das liturgische Verhältnis gegenüber diesen Gaben ist das einzig richtige Verhältnis des Menschen gegenüber der Schöpfung. Es stellt die Rückkehr zum richtigen Verhältnis des Menschen zu Gott, zum Nächsten und zur Schöpfung dar.
Dieses wahre Verhältnis ist durch den Sündenfall verlorengegangen. Die Sünde ist die Entfremdung des Menschen von Gott, vom Nächsten und von der Schöpfung. Sie ist der Verlust dieses richtigen, wahren Verhältnisses zu Gott, zum Nächsten und zur Schöpfung. In diesen Gaben - in Brot und Wein - eröffnet sich uns auch die rechte Art ihrer Darbringung; es offenbart sich uns der Sinn der Schöpfung. Die Schöpfung ist ihrem Wesen nach, ihrer Berufung nach ein Zeugnis der Absicht Got-tes, d. h. sie ist eine Ikone der Anwesenheit Gottes und ein "Wegweiser" zu Gott.
Die Liturgie ist ein Mittel der Gemeinschaft des Menschen mit Gott und seiner Schöpfung, und die Schöpfung erscheint uns als ein Zeichen der Liebe Gottes zu seinem Geschöpf. Aber gleichzeitig ist die Liturgie auch ein Zeichen der menschlichen Lie-be zu Gott, und zugleich auch ein Zeichen ihrer gegenseitigen Liebe. Durch die Gaben der Liturgie offenbart uns Gott Seine Anwesenheit unter den Menschen, und zugleich werden die Menschen in den Gaben und durch sie Gott dargestellt.
In dem Licht, um das wir in der Liturgie vor der Verlesung des Evangeliums bitten ("Laß leuchten in unseren Herzen, menschenliebender Gebieter, das unvergängliche Licht deiner Gotteserkenntnis"), schauen wir das Licht der Wahrheit. In diesem Licht wird die Schöpfung transparent für uns. Alles in die-sem göttlichen Licht, das uns gegeben wird, führt zur heiligen Gemeinschaft, sowohl in diesem als auch im ewigen Leben. Dieses Licht bewahrt alles, was wahrhaftig und was gut ist, was heilig ist von Anbeginn der Welt bis zu ihrem Ende.
Hier in der Liturgie wird uns also offenbar, daß dies alles nicht nur im menschlichen Gedächtnis bewahrt wird, sondern in Gottes Gedächtnis. Dies geschieht deshalb, weil die gesamte Liturgie tatsächlich Anamnese Gottes, unseres Herrn Jesus Christus ist. Dieses Gedenken, diese Anamnese, die wir nach Seinem Gebot vollziehen, ist nicht nur ein psychologischer Ritus, sondern ein Zeichen der wahren Anwesenheit (parousia) Christi und Seiner gesamten Heilsökonomie. Die Worte Christi "Neh-met, esset, dies ist Mein Leib, der für euch gebrochen wird zur Vergebung der Sünden" und "Trinket alle daraus, dies ist Mein Blut des Neuen Bundes, das für euch und für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden" sind, waren und bleiben für die Orthodoxe Kirche Grundpfeiler und Eckstein ihres gesamten Wirkens und Denkens. Sie sind von ei-nem unaussprechlichen Geheimnis erfüllt, und die Kirche hat sie immer mit kindlicher Offenheit des Herzens aufgenommen, hat sie als Wirklichkeit, als Realität betrachtet, als Wesen jeglicher Wahrheit der Kirche, und jeglicher Wirklichkeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Christus hat Sich gegeben und gibt Sich für das Leben der Welt. Die heilige Liturgie ist Seine Anwesenheit und die Anwesenheit dieses Seines unaufhörlichen Sich-Hingebens für das Leben der Welt bis zu Seiner zweiten Wiederkehr. Bei Seiner Wiederkehr werden wir noch vollständiger an Ihm teilhaben. Die heilige Liturgie führt uns auch ein in das Geheimnis des zukünftigen Zeitalters, in das Geheimnis des Reiches Gottes, welches unter uns ist, da Christus unter uns ist, welches aber auch kommt und kommen wird. Diese Gegenwart Christi ist eine Realität, ist aber auch der Weg, der in die vollkommene Realität führt. In der Liturgie und durch die Liturgie wachsen wir "in das Altersmaß" (Eph. 4, 13) Christi hinein. Ohne diese eschatologischen Dimensionen der Liturgie könnte ihr Sinn kein vollständiger Sinn sein, so wie auch ohne "Eschaton" das Leben des Menschen und der Bestand der Schöpfung keinen Sinn hätte. Ausschließlich im Licht des kommenden Zeitalters erhält das gesamte Weltgeschehen seinen vollen Sinn.
Vor allem aber erhält die Liturgie und alles, was in ihr geschieht und durch sie verwirklicht wird, ihren vollständigen Sinn im Licht des "Eschaton". Gerade in ihr wird uns die "Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes, des Vaters und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes" geschenkt. In der heiligen Liturgie macht uns der Heilige Geist Selbst würdig und fähig, das zu empfangen, um wessentwillen wir geschaffen sind und um wessentwillen wir existieren. "Mit einem Mund und mit einem Herzen preisen wir den heiligsten und erhabenen Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes jetzt und immerdar und in alle Ewigkeit". Natürlich werden wir erst dann lernen, Gott richtig zu preisen - den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist - , wenn wir lernen, richtig anzubeten, nicht Fleisch und Blut, sondern den lebendigen Gott Selbst. Wenn wir uns also Gott Selbst überantworten, unser Leben Gott als Gabe darbringen, wenn wir "uns selbst, einander und unser ganzes Leben Christus überantworten", erst dann werden wir Ihn richtig anbeten, erst dann werden wir wahre Anbeter Gottes. Auf diese Weise werden wir durch die Kraft des Heiligen Geistes zu Teilnehmern an Christi Allreinem Leib und Seinem Blut, zur Vergebung der Sünden und zum ewigen Leben.
All dies wird uns in der heiligen Liturgie gegeben, welche auf diese Weise über ein Sakrament hinauswächst, wie wir eingangs sagten, und zu dem allumfassenden Sakrament, dem Sakrament an sich wird. Dieses Sakrament umfaßt nach sei-nem Inhalt, seinem Sinn und seiner Wirkung das gesamte Mysterium des Lebens und der Welt.
* Der hier zum Abdruck kommende Vortrag wurde beim Seminar für Orthodoxe Liturgik und Spiritualität 1989 als Festvortrag gehalten und erscheint im 5. Band der Reihe "Begegnung mit der Orthodoxie", der soeben in der Druckerei des Hl. Hiob von Poçaev erschienen ist.