Predigt zum Herrentag vom Gelähmten (Apg. 9: 32-42; Joh. 5: 1-15) (03.05.2015)
Liebe Brüder und Schwestern,
am vierten Sonntag der österlichen Zeit hören wir in der Evangeliumslesung von einem gelähmten Mann, der achtunddreißig Jahre lang vergeblich auf Heilung hoffte. Noch war die gütige Allmacht Gottes zum Wohle aller Notleidenden für alle damals unbestritten, wovon die große Menge derer zeugt, die auf das in unregelmäßigen Abständen am Teich Betesda stattfindende Wunder hofften (s. Joh. 5: 3). Es ging für die Leute allerdings darum, schneller, flinker, schlauer oder rücksichtsloser als alle anderen zu sein, um dieser freigiebige dargebotenen Gnade habhaft zu werden. Als der Herr am Schafstor vorbeikommt, bietet Er dem Gelähmten in Seiner unermesslichen Liebe die sofortige Heilung an, völlig ungeachtet dessen, ob der Empfänger sich dieser Gnade als würdig erweist, oder nicht. Der Herr zieht Sich im Anschluss an die Heilung unter dem Schutz der Anonymität zurück, um jeglichen Dankesbekundungen und euphorischen Ausrufen Herbeigeeilter zu entgehen (5: 13). Dankbarkeit ist in einer solchen Situation zwar eine Selbstverständlichkeit, aber kein Selbstzweck - weder aus Sicht des Wohltäters, noch aus der des Beglückten. Worauf es hingegen ankommt, ist die Konsequenz, die man aus der göttlichen Gnade zieht. So begegnet der Herr erst später dem Geheilten im Tempel und warnt ihn: „Jetzt bist du gesund; sündige nicht mehr, damit dir nicht noch Schlimmeres zustößt“ (5: 14). Darauf geht der Geheilte zu den Juden und verrät ihnen den Namen Dessen, Der aus ihrer Sicht das vierte Gebot gebrochen hat. - Achtunddreißig Jahre siechte er dahin, und wenige Stunden nach seiner Heilung denunziert er seinen Wohltäter, Dem er doch ein Leben lang dankbar sein sollte!! - Stellt sich da nicht von selbst die Frage: konnte der Herr das nicht in Seiner Allwissenheit voraussehen? Warum „provoziert“ Er den gerade erst Geheilten, dessen Herzen und Gedanken Er doch kannte, zu solch einer von Undank erfüllten Schandtat?
Nach meinem Dafürhalten will uns der Herr damit zeigen, dass, einerseits, die Gnade Gottes immer zugänglich und greifbar für uns ist, wir aber, andererseits, uns ihrer sehr leicht als unwürdig erweisen können. Und dann könnte auch uns „noch Schlimmeres“, als bloß körperliches Leid zustoßen, nämlich die Knechtschaft der Sünde. Und die führt zum Tod der Seele, lässt die erhaltene Gnade in uns wirkungslos verbleiben. Achten wir also darauf, dass Gottes „gnädiges Handeln“ an uns nicht ohne Wirkung bleibt (1. Kor. 15: 10). Das sollten, im Übrigen, alle bedenken, die sich oder ihre Kinder aus Motiven taufen lassen, die nicht auf der Liebe zu Christus und der Bereitschaft, sein Kreuz auf sich zu nehmen, gründen. Nur die ungeheuchelte Liebe zu unserem Herrn und das sehnlichste Verlangen, Seinen Willen zu erfüllen, rechtfertigen den Empfang der Mysterien von Taufe, Myronsalbung und aller anderer Gnadengaben. Sonst könnte man ebenfalls sehr leicht in die Verlegenheit kommen, Gott nach erbrachter „Dienstleistung“ nicht mehr zu „brauchen“ und dies durch verräterisches Verhalten auszudrücken. Gott will uns erretten, Er tut alles für unser Seelenheil, das sich uns in den Mysterien der Kirche und der Befolgung der göttlichen Gebote offenbart. „Unser Gott ist ein rettender Gott, und der Herr allein hat uns vom Tode befreit“ (Ps. 67: 21). So ist das Fernbleiben von der gelebten Gemeinschaft in der Eucharistie per definitio anti-eucharistisch und Ausdruck unserer Undankbarkeit für die Befreiung vom Tode. Denken wir immerfort an unsere Berufung, derzufolge uns Gott „dazu auserwählt hat, aufgrund der Heiligung durch den Geist und aufgrund des Glaubens an die Wahrheit gerettet zu werden“ (2. Thess. 2: 13).
Dostojewskij drückte das Dilemma der überreichlich ausströmenden Gnade Gottes und unserer unzureichend vorhandenen Aufnahmebereitschaft durch eine Parabel in „Die Brüder Karamasow“ wie folgt aus: Eine alte Frau, die Zeit ihres Lebens nur Böses vollbracht hatte, steht schluchzend vor dem verschlossenen Tor des Paradieses. Die Torwächter verlangen wenigsten ein gutes Werk, das sich aber im „Notizblock“ ihres Schutzengels partout nicht finden lässt, so dass sie zum Höllenfeuer verdammt wird. Dann entsinnt sich der Schutzengel, wie die Alte einem hungrigen Bettler eine verfaulte Zwiebel wutentbrannt hinterherwarf, als sie ihn von Hof jagte. Dies wird ihr prompt als „gute Tat“ angerechnet. Der Schutzengel darf also zu ihr hinuntersteigen und ihr eben diese vergammelte Zwiebel reichen, an der sich die Frau festklammert und aus dem lodernden Inferno hochgezogen wird. Doch als die übrigen verurteilten Sünder das sehen, heften sie sich an den Rock der Alten, um mit ihr hochgezogen zu werden. Diese wehrt diese Fluchtversuche hasserfüllt mit beiden Händen ab - und fällt schnurstracks wieder aus halber Höhe zurück ins Höllenfeuer...
Gott liebt uns so sehr, dass Er uns ohne Vorbedingung Seine Gnade schenkt, auch wenn Er unsere Neigung kennt, Ihm das Gute mit Bösem zu vergelten. Er ist sogar bereit, die Konsequenz dieses Fehlverhaltens Selbst am eigenen Leib zu ertragen, wie am Beispiel des Judas oder des Gelähmten erkennbar ist. Ereignisse, wie der Oktoberumsturz 1917 in Russland zeigen aber auch, dass der Herr Seine Geliebten an diesen zu erduldenden Folgen der Undankbarkeit teilhaben lässt, damit die wirklich Bemitleidenswerten wenigstens die eine Rechtfertigung haben, dass ohne sie nämlich kein Märtyrerblut vergossen worden wäre. Wer weiß, ob ihnen das nicht irgendwie doch als „gute Tat“ angerechnet werden kann?! Zweifelsohne reicht solch eine Gnade sogar für diejenigen, welche Christus ans Kreuz schlagen ließen und für die Er zum Himmlischen Vater betete. An Gottes Liebe soll es bestimmt nicht liegen. Die Frage ist nur, ob sie selbst diese Gnade werden annehmen und ertragen können.
Amen.