Predigt zum Herrentag vom Zöllner und vom Pharisäer (2 Tim. 3:10-15; Lk. 18:10-14) (25.02.2024)
Liebe Brüder und Schwestern,
nun stehen die Zeichen auch liturgisch unwiderruflich auf Fastenzeit. Der heutige Herrentag vom Zöllner und vom Pharisäer, dieses Hinweisschild auf dem Weg zum Königtum Gottes, beschert uns aber erst einmal eine Woche ohne die üblichen beiden Fastentage am Mittwoch und Freitag. Ein Dispens während der Ruhe vor dem Sturm? Oder was? So seltsam es klingt, das einwöchige Nicht-Fasten soll den wahren Sinn des Fastens erklären. Wie das?
Wir werden in der heutigen Lesung mit zwei Lebensmodellen konfrontiert. Wir sehen einen Mann, der nach außen hin fromm lebt, d.h. die religiösen Gebote hält. Auf der anderen Seit haben wir einen Mann, von dem wir, im Grunde genommen, nichts wissen, außer den Berufszweig, dem er angehört. Und obwohl wir so wenig wissen, kann man aufgrund der vorgefassten, klischeehaften Vorstellung der Menschen der Gesellschaft der damaligen Zeit schließen, dass der Erste ein Gerechter und der Zweite ein Sünder war. Das geht aus den knappen Worten, die der Herr für diese Parabel verwendet, eindeutig hervor. Und aus einem bestimmten Blickwinkel – dem der pharisäischen Weltsicht – ist das auch uneingeschränkt und zweifelsfrei so. Nach den von ihnen subjektiv aufgestellten Regeln ist jemand, der die Vorgaben des Gesetzes buchstabengetreu (s. Röm. 7:6) erfüllt, schon so etwas wie ein Heiliger. Für mich ist das – wenn man die geistlich-moralischen Regeln nach seiner Fasson selbst bestimmt – nicht anderes als Selbstgerechtigkeit. Einer hingegen, dem es aus objektiven oder subjektiven Gründen nicht gelingt, diese Standards in ihrem gesamten Umfang einzuhalten, gilt praktisch per se schon als Sünder, als Ausgestoßener, und wird zur Zielscheibe der Abneigung für viele.
Wenn ich die gesamte Datenmenge meines geistlichen Profils zur Selbstanalyse ins Himmelslabor schicken würde, würde der celestische Computer bei mir wohl Elemente beider Personen zum Vorschein bringen. Das Seltsame ist, dass wir doch fast alle in Wirklichkeit dem Pharisäer mehr nacheifern als dem Zöllner, obwohl der Herr doch am Schluss des Gleichnisses eindeutig sagt, dass der reuige Zöllner als Gerechter nach Hause ging, nicht aber der von der eigenen Gerechtigkeit überzeugte prahlerische Pharisäer.
Vor einigen Monaten gab es im den USA eine repräsentative Umfrage, die am Ende ergab, dass sich ein Viertel (!) der Bevölkerung des Landes als Heilige sieht. Worauf ist das zurückzuführen? Ist Amerika ein christliches Land? Ja und nein. Rein statistisch betrachtet ist das Land zu 80% christlich. Aber das Unterscheidungsmerkmal der Christen zu anderen Religionen ist doch, dass für den Christen die verdorbene und gefallene menschliche Natur ein Fakt ist. Er kann folglich gar nicht gerecht leben, auch wenn er es will (s. Röm. 7:14-16). Der „Trick“, um vor sich selbst und möglichst auch vor den Menschen gut dazustehen, ist einfach: man befolge alles nur nach außen hin. So kommen dann die rund 25% „Heilige“ (das wären rund 75 Millionen) in Amerika zustande. Aber, Hand aufs Herz, auch wir richten unser Augenmerk oftmals mehr auf das Äußere als auf das Innere – was vor allem bei der Erziehung unserer Kinder zu fatalen Folgen führen kann. Wie können wir uns vor dieser für das Seelenheil gefährlichen Fehlentwicklung schützen?
Ich meine, wir sollten ständig den Taten des Pharisäers nachahmen, uns dabei aber die Geisteshaltung des Zöllners zu eigen machen. Es ist wahrscheinlich (und hoffentlich) so, dass uns Defizite beim ersten Unterfangen leichter verziehen werden als beim zweiten. Unter „Taten“ verstehen wir nicht bloß Gutmenschentum, sondern die Erfüllung, sagen wir mal, der elementaren Norm für christliche Frömmigkeit, als da wären: unablässige Gottesdienstbesuche an Sonn- und Feiertagen, häusliche Gebete morgens und abends, das Einhalten der Fastenzeiten, Bewahrung der körperlichen und seelischen Reinheit vor der Ehe, ein Leben nach ethischen Prinzipien etc. Das ist schon etwas, was vor Gott zählt, weil es den richtigen religiösen Eifer dokumentiert. Aber ohne die innere Hinwendung zu Gott, die ohne die reuevolle Einsicht der eigenen Sündhaftigkeit nicht stattfindet, kann man die Gebote des Evangeliums nicht einhalten!
Der Pharisäer war selbstzufrieden, weil er sich auf die rein äußere Norm beschränkte. Das tun bei uns auch viele. Sie belehren, kritisieren, „missionieren“ andere, vielleicht in kirchlicher Etikette weniger bewanderte Menschen – wobei sie diese im Endeffekt aus der Kirche vertreiben. Man muss dazu auch kein Heuchler sein, denn das innige Verlangen, unsere Mitmenschen auf den Pfad der Tugend zu bringen, beruht ja auf der eigenen positiven Erfahrung, wie schön es doch ist, mit Gott zu leben, in der kirchlichen Gemeinschaft zu sein und dadurch Halt und Orientierung im Leben zu haben. Aber was nützen solche Ansprachen den Menschen, welche diese Erfahrung noch nicht gemacht haben?! Sie müssen diese Glaubensfreude erst selbst erfahren (s. Joh. 1:46). Und wenn solche plumpen und ungelenken Missionierungsversuche scheitern, wird schnell an anderer – nämlich höherer – Stelle nach Schuldigen gesucht: Priester, Bischöfe, selbst der Patriarch gerät schnell ins Kreuzfeuer der Kritik scheinbar nach strengen Normen lebender Gläubiger (im Kirchenjargon nennt man sie кликуши = bornierte, scheinheilige Kirchgänger). Sie haben keine Ahnung, welche Verantwortung die von ihnen getadelten Personen tragen. Zudem merken sie nicht, dass sie so ihre eigene Verantwortung als loyale Schutzbefohlene und konstruktive Helfer (s. 1 Petr. 2:1-10) konterkarieren. Woran es ihnen mangelt? An Selbsteinsicht, Reue und der flehentlichen Bitte um Vergebung ihrer Sündhaftigkeit. Dazu bedarf es uns allen nur weniger, aber aus der Tiefe der Seele kommender Worte: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ (Lk. 18:13). Amen.